: Schrift, Hieroglyphe, Symbol
Die Frau in der Bilderflut: „Writing to Vermeer“. Louis Andriessens und Peter Greenaways neues Musiktheater wurde jetzt in Amsterdam uraufgeführt ■ Von Frieder Reininghaus
Was liest die junge Frau, die Jan Vermeer am Fenster stehend mit einem Brief in der Hand malte? Peter Greenaway glaubt, es lesen zu können. Aus der Lektüre hat er eine Art Briefroman entwickelt und diesen zum Libretto fortgeschrieben. Überhaupt spielt die Schrift (und die Zahl) für Greenaway von jeher eine große Rolle. Bekannt wurde der Regisseur durch „Drowning by Numbers“, eine makabre Frauen-Filmkomödie, in der nach seriellem Prinzip gemordet wird. Um die Dokumente der Schriftkultur, ihre Aura und Brennbarkeit ging es in „Prospero's Books“, einer Shakespeare-Verfilmung, die international für erhebliches Aufsehen sorgte. Opernfreunde mögen Greenaways Inszenierung des „Christophe Colomb“ von Darius Milhaud an der Berliner Staatsoper noch in Erinnerung haben, bei der die Tagebücher des Abenteurers und Entdeckers eine zentrale Rolle gewannen. Schriften, Hieroglyphen, Symbole. Die Tummelplätze der greenawayschen Fantasie.
Vor fünf Jahren präsentierte der britische Maler, Kunsthistoriker und Filmemacher mit dem holländischen Komponisten Louis Andriessen an de nederlandse opera in Amsterdam die Künstler- und Pferde-Oper „Rosa“: eine künstlerische Obsession, eine Orgie der Nacktheit im Schlachthaus mit Lust auch zu sodomitischen Ausflügen. Nun hat das Team von 1994 ein weiteres Mal zur Arbeit zusammengefunden. Diesmal, um stillere Bezirke der Kunst zu erkunden und sich einem unbedingt liebenswürdigen Künstler zu nähern. Aber auch auf diesem Weg will Greenaway einen Superlativ.
„Writing to Vermeer“ erzählt nun das Wenige, was von der Biografie des niederländischen Malers Jan Vermeer aus Delft bekannt ist. Dazu historische Hintergründe: Aspekte der Künstlerbiografie in den Jahren des Dreißigjährigen Kriegs und den auch nach dem Westfälischen Frieden noch so unsicheren und blutigen Zeiten in Nordwesteuropa.
Peter Greenaway operierte taktisch geschickt. Er lässt keinen Vermeer singen, bringt die auratische Figur selbst gar nicht auf die Bühne. Sie bleibt abwesend, wird lediglich mit Mitteilungen und Grüßen bedacht; geliebt vor allem. Denn, so die durch wissenschaftliche Quellen gestützte Annahme der Theaterhandlung: Der Meister reiste für 14 Tage in das von Delft nur 40 Kilometer entfernte Den Haag, um dort als Kunstgutachter zu wirken. Seine drei Frauen aber schreiben ihm: die Ehefrau Catharina Bolnes, die Schwiegermutter Maria Thiens und Saskia, das Modell. Und da läuft die Maschinerie der Filmtechnik an. Sie überrollt die Bühne mit Schriftzügen und Satzfolgen. Briefteppiche legen sich unter die Figuren und Motive, die aus Vermeers Bildern zu Leben erwacht sind. Filmeinblendungen verweisen auf die politisch-gesellschaftlichen Ereignisse um das Jahr 1672, in dem Vermeer das einzige Mal in seinem recht kurzen Leben reiste: auf die Tulpenzucht und die Entstehung der Intensivlandwirtschaft mit schwarz-bunten Hochleistungskühen, auf die Explosion des Pulverturms in Delft und die von Ludwig XIV. befohlene Invasion durch französische Truppen. Die Holländer reagierten darauf bekanntlich mit dem Öffnen der Schleusen, dem eine große Wirtschaftskrise folgte.
Immer wieder erblüht das von Jan Vermeer konzipierte Bild der Frau als „reine“ Reproduktion aus der von Greenaway organisierten Bilderflut: die schreibende Frau, die musizierende Frau, die lesende Frau der frühen Neuzeit in gelassener Ruhe, eingefasst von bürgerlichem Interieur. Kontrastiert wird solche bürgerliche Innerlichkeit mit der Darstellung des grausamen Tods der Brüder Witt, die wegen ihrem politischen Versagen und dem militärischen Scheitern zu Beginn des Einfalls der Franzosen gelyncht wurden. Wiederum machen kurze Einblendungen sichtbar, was Theater nicht zeigen kann; dann aber wird die Bühne wieder der konventionellen Art von Schauspielerei überlassen, die mit dem Blut, das gleichsam aus dem Film geronnen ist, Besudeln und Saubermachen spielt.
Louis Andriessen hat eine sehr vielgestaltige Musik zu dieser Schrift- und Bilderfolge entwickelt. Orff-Adaptionen und Minimal-Anklänge, schroffe Moderne, freie Atonalität und Rekurse auf die kompositorischen Schreibweisen des 17. Jahrhunderts finden sich da geschickt arrangiert. Mit seinem Kontrapünkteln, mit Rezitativischem und Arioso bedient der Tonsatz zu dieser Vermeer-Oper die unterschiedlichsten Affekte auf höchst effektive Weise. Reinbert de Leeuw sorgt mit dem „Asko“- und Schönberg-Ensemble Amsterdam für eine packende Interpretation, die im Finalgesang der Saskia ihren traurigen Höhepunkt erreicht: eine groß angelegte Hommage à Strawinsky, welche die berühmte Arie der Ann Troulove aus dessen Oper „The Rake's Progress“ zitiert und fortspinnt.
In den Niederlanden ist die tägliche halbe Stunde „Big Brother Reality-TV“ derzeit die beliebteste Sendung. Freiwillige in einem Spezial-Containerhaus werden beim alltäglichen Leben belauscht und observiert. Möglicherweise reagiert „Writing to Vermeer“ sensibel auf solche Popularitätsmache: Es ist Reality-Show eines historisch gelebten Lebens und für die Kreise mit dem gehobenen Geschmack.
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