Das Märchen nebscht der Alb

■  Fußball-Regionalligist SSV Reutlingen gewinnt Spiel auf Spiel – dann erscheint auch noch ein engagierter Antifaschist mit viel Geld und will den Club in die Bundesliga führen

Reutlingen (taz) – Weihnachten war vorgezogen dieses Jahr beim Fußball-Regionalligisten SSV Reutlingen. Anfang Dezember schneit beim Tabellenführer der Regionalliga Süd ein Mann ins Haus, der sich als früherer Textilunternehmer vorstellt und den Stoff für große Fußballträume gleich mitliefert: Walther Seinsch will mit fünf weiteren Investoren den Club aus der albnahen Provinz in die 1. Bundesliga führen.

Seinsch präsentiert sich in Reutlingen als grundsolider „Fußball-Jeck“: Vor drei Jahren hatte er sein Textilunternehmen bei Münster verkauft und sich am Bodensee zur Ruhe gesetzt. „Ich habe ein Jahr lang auf den See und die Berge geguckt, und dann hat mich das Fell gejuckt“, sagt der 58-Jährige, der neun Kinder hat – sechs von ihnen sind adoptiert. Auf die Reutlinger, die während der Vorrunde unter Trainer Armin Veh eine einzigartige Erfolgsserie von 16 Siegen aus 19 Spielen hingelegt und nach dem 5:1 am Wochenende gegen Wacker Burghausen in der Ligatabelle bereits 12 Punkte Vorsprung haben, war Seinsch bei der Zeitungslektüre gestoßen: „Das Konzept des SSV hat mich beeindruckt. Deshalb fragte ich nach, ob ich helfen kann.“

Mittlerweile wacht Reutlingens Fußballboss Dieter Winko morgens wieder auf, ohne sich zu fragen, ob das alles wahr ist. „Seinsch will etwas bewirken und auch das Umfeld mitgestalten. Deshalb engagiert er sich nicht in der ersten oder zweiten Liga.“ Winko selbst hatte den SSV vor gut zwei Jahren mit einem Millionenbetrag vor dem Konkurs gerettet und den derzeitigen Höhenflug ermöglicht.

Doch was Seinsch mit einer Mischung aus „preußischen, rheinischen und schwäbischen Tugenden“ nun in der Stadt 35 Kilometer südwestlich von Stuttgart umsetzen will, spielt in einer ganz anderen Liga. „Viele Vereine sind nicht so geführt, dass das Optimale herausgeholt wird“, betont Seinsch. Ernsthaft hält er 200 Millionen Mark Umsatz pro Jahr in Reutlingen für möglich, bezeichnet Fußball als „volkswirtschaftlichen Faktor“ und schwärmt von der ansteckenden Atmosphäre“ in einem reinen Fußballstadion.

Und das will er bauen lassen. Eine Arena mit gastronomischen Betrieben und möglichst auch reichlich vermietbaren Büroflächen macht Seinsch sogar zur Bedingung für sein Engagement. Seine Fußball-Immobilie soll 35.000 Zuschauer fassen und 100 bis 125 Millionen Mark kosten. Einzige Bedingung: Die Stadt Reutlingen und das Land Baden-Württemberg müssen zusammen ein Drittel der Kosten tragen. „Sonst steige ich aus, da bin ich starrköpfig.“ Seinsch will einer von zwei Geschäftsführern der zu gründenden Lizenzspieler-GmbH werden. Das Gehalt ist derzeit noch strittig – „eine Mark oder ein Euro“, sagt Walther Seinsch und schmunzelt.

Ist der Mann wirklich ein uneigennütziger Gönner? 1996 hat Seinsch gemeinsam mit seiner Frau die „Stiftung Erinnerung“ gegründet. Eine Stiftung, die in Erinnerung halten soll, dass „von Deutschen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 die schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit verübt worden sind“. Fußballer, antwortet der Investor, seien doch auch nicht doofer als andere. Und er, der 42 Jahre lang gekickt hat, aber nie über die Kreisliga hinaus kam, sei eben immer auch politisch sehr interessiert gewesen.

„Irgendwann“ habe er das KZ-Buch von Primo Levi gelesen („Ist das ein Mensch?“) – „und das hat mich dann nicht mehr losgelassen“. Nein, betont er, sich nicht mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen sei das „zweite Verbrechen“.

Im April diesen Jahres verlieh seine „Stiftung Erinnerung“ in Berlin erstmals den mit 25.000 Mark dotierten Marion-Samuel-Preis an den Holocaust-Forscher Raul Hilberg. Benannt ist dieser nach einem 13-jährigen Mädchen, das 1943 nach Auschwitz deportiert worden war. „Wir sind es den Opfern schuldig, sich ihrer zu erinnern“, sagt Seinsch – und vergisst für einen Moment, dass er die Kurzpass-Künstler vom SSV Reutlingen in die erste Liga führen will. Thomas de Marco