: All diese Sachen im Kofferraum ...
■ Liebevolle Selbstvergewisserung der TV-Pyjama-Generation: „Fernsehfieber: Aktenzeichen XY ungelöst. Ein Klassiker verfolgt seine Zuschauer“ (21 Uhr, 3sat)
„Immer war irgendwas im Kofferraum“, erinnert sich Torsten Meiser, „die Leiche, die Spitzhacke oder der Bolzenschneider.“ Eine Zeit lang sei er regelrecht kofferraumphobisch gewesen. Torsten Meiser ist von Kindesbeinen an bekennender „Aktenzeichen XY ungelöst“-Zuschauer und einer der Augenzeugen, die Stefan Eckel und Rolf S. Wolkenstein für ihr Fernsehporträt über die ZDF-Fahndungssendung vernommen haben. Glaubt man den Befragten, war die Sendereihe kein öffentlich-rechtliches Kripomagazin, sondern ein ausgemachter Kinderschreck. Die stilprägende Mischung aus Reality-TV und Crime-Time, wie sie Eduard Zimmermanns Sendung allmonatlich im ZDF verbreitete, wirkte auf die Kinder von damals wie Grimms Märchen auf ihre Eltern: Es beflügelte ihre Fantasie.
„Aktenzeichen XY ungelöst“ sendet seit 1967. Es sind also die 60er-Jahrgänge, die vor dem Zähneputzen noch Werner Vetterli, Reinhard Hohl und Konrad Toenz auf Fahndung begleiten durften, um dann mit dem Horror des Heckenscherenmörders ins Bett zu steigen. Nun sind die verängstigten Knirpse von einst dem Schlafanzug-TV entwachsen und haben ihr televisionäres Trauma zum 70er-Kult verarbeitet. Und weil die vom „Aktenzeichen“ Gezeichneten längst nicht nur in der Berliner Szenebar „Konrad Toenz“ zu Hause sind, sondern den Weg bis hinauf auf den ZDF-Lerchenberg gefunden haben, erfand die junge 3sat-Redaktion Quantum zur selbstreferentiellen Bewusstwerdung die Reihe „Fernsehzauber“.
Mit einstündigen Porträts über bundesrepublikanische Fernsehklassiker soll nach eigenen Aussagen die Frage ergründet werden, wie das Fernsehen als populäres Medium die Gesellschaft prägt. In Wahrheit ist die liebevoll gemachte Dokumentation über „Aktenzeichen“ wohl vor allem eine sentimentale Annäherung an die eigene Kindheit. Sollte sich beim Publikum Interesse einstellen, so der verantwortliche Redakteur Christian Kloos (Jg. 1962), könne man sich durchaus weitere Beiträge z.B. über „Dalli-Dalli“ oder das „Aktuelle Sportstudio“, „Den großen Preis“ oder „Spiel ohne Grenzen“ vorstellen.
Der hier vorgenommene Perspektivwechsel ist so folgenreich, weil er das schlichte Making-Off-Produkt aus dem Blickwinkel der Macher verhindert. Noch zum Bildschirmabschied von Eduard Zimmermann vor zwei Jahren hagelte es nur honorige Worte und niedliche Anekdoten, dass zum Beispiel der Fernsehmarshall Zimmermann zunächst seinen eifrigen Hilfssheriffs vor den Empfangsgeräten empfahl, die Fahndungsfotos zur besseren Erinnerung vom Bildschirm abzufotografieren („Verschlusszeiten nicht unter 30 Hundertstel!“).
„Fernsehzauber“ berichtet dagegen konsequent aus der Pyjama-Perspektive der kleinen Zuschauer. Abgesehen von Polizeiregisseur Jürgen Roland und Medienwissenschaftler Hans J. Wulff kommen überhaupt kaum Menschen über 40 zu Wort. Und während „Aktenzeichen“ Ende der 60er-Jahre eine frühe Kontroverse über die unkontrollierbare Wirkung des Massenmediums hervorrief, bleibt die Meta-Ebene hier völlig außen vor: kein Wort über die befürchtete „Treibjagd mit moralischem Alibi“ (Spiegel, 1967), keine kritische Auseinandersetzung mit jenem trügerischen Gruppengefühl, das die Telefahndung seinen Zuschauern mit jedem neuen „sachdienlichen Hinweis“ als Lustgewinn anbot.
Wer heute so alt ist wie das ZDF, stellt das Fernsehen seiner Jugend eben nicht grundsätzlich in Frage, sondern bemängelt höchstens verlorene Flimmerfreuden. Den alteingesessenen Bewohnern des Lerchenbergs, die das Fernsehen noch als moralische Anstalt verstanden, muss diese scheinbar unkritische Distanzlosigkeit wie eine kopernikanische Wende vorkommen. Immerhin bleibt die einfühlsame Erinnerungsarbeit vorerst in öffentlich-rechtlichen Händen. Aber schon bald werden nachfolgende Generationen noch ganz andere Kinderspielzeuge zur Selbstvergewisserung wieder hervorkramen: Die zauberhaft konsumlüsternen Gameshows der 80er wie „Glücksrad“ oder „Der Preis ist heiß“ warten in den Archiven der Privaten abrufbereit auf den ultimativen 80er-Kult.
Klaudia Brunst
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