: Lernstreik gegen Lehrlücke
■ Eltern schicken ihre Kinder nicht in die Schule, weil der Unterricht ständig ausfällt
Der Zaun vor der Schule ist voll mit Transparenten: „Wir wollen mehr Unterricht“ und „Lehrer her“. Vor der Kurt-Tucholsky-Grundschule in der Rathenower Straße in Tiergarten herrschte gestern Ausnahmezustand. Dort demonstrierten rund 150 Eltern mit ihren Kindern gegen den Unterrichtsausfall an der Schule. Nur ein Drittel aller 700 Kinder besuchte den Unterricht.
„Rund 20 Prozent der Stunden fallen aus“, hat Elternvertreterin Sibylle Seesemann-Kempe ausgerechnet. Vier Lehrer seien dauerhaft erkrankt. An manchen Tagen hätten 18 der 50 LehrerInnen gefehlt. Weil es nur wenig junge Lehrer an der Schule gebe, sei der Krankenstand so hoch. „Viele Kinder verkraften es emotional nicht, wenn ihnen ständig ein Vertretungslehrer vor die Nase gesetzt wird oder der Unterricht ganz ausfällt“, schimpfte eine Mutter. Eine andere sagte: „Wir fühlen uns verraten.“ Die Schule liege in einem „sozialen Brennpunkt“, für den von Bezirk und Senat besondere Hilfe zugesagt worden sei. Passiert sei jedoch nichts.
Nicht die Schulleitung, sondern das Landesschulamt sei schuld am Unterrichtsausfall, betonen die Eltern immer wieder. Das Amt bemühte sich gestern, den Schaden zu begrenzen. „Frühestens“ ab Februar werde es zwei neue Lehrkräfte geben, sagte die zuständige Referatsleiterin Monika Marcks. Die Schule habe sich bei der Berechnung des Lehrerbedarfs vertan und mit zwei Lehrern mehr gerechnet, als ihr zustehen. Diese werden momentan im Integrationsunterricht eingesetzt und sollen jetzt auch andere Klassen unterrichten.
Das Problem an der Tucholsky-Schule ist kein Einzelfall: In der Schulverwaltung wird geschätzt, dass in ganz Berlin jede 30. Unterrichtsstunde ausfällt. Die Vertretungsmittel reichen nicht aus, so Marcks. Derzeit liegen sie – und das wurde in den Koalitionsvereinbarungen auch wieder so festgeschrieben – bei 5 Prozent aller Unterrichtsstunden. Marcks geht aber von einem Bedarf von mindestens 7 Prozent aus.
Rund 80 Eltern haben sich berlinweit zusammengeschlossen. Für März planen sie einen Sternmarsch, um auf den Bildungsnotstand aufmerksam zu machen. „Nur die, die motzen, bekommen Unterstützung“, sagt Protestkoordinator Wolfgang Schlaak, dessen Kinder auf das Hans-Carossa-Gymnasium in Reinickendorf gehen. Dort fiel wochenlang der Latein- und Englischunterricht aus, weil die Lehrer versetzt oder pensioniert wurden.
Julia Naumann ‚/B‘Weitere Infos gibt es bei W. Schlaak unter Tel.-Nr. 31 00 25 19 oder schlaakhhi.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen