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Die Normalen bilden jetzt die Mehrheit“

Auch in diesem Jahr wird in der Heiligkreuzkirche in Kreuzberg das Fest der Obdachlosen gefeiert. Für eine warme Mahlzeit, Tabak vom Pfarrer und Weihnachtslieder trafen sich Punks, Junkies, Rentnercliquen und Alkoholiker. Doch ein „Wir-Gefühl“ will nicht aufkommen   ■  Von Kirsten Küppers

Hähnchen mit Kartoffelsalat, Linsensuppe, Streuselkuchen und Kaffee. Es steckt etwas Grundsolides, Proletarisches in diesem Menü. Das ist weder was schnell auf die Hand noch Paul Bocuse. Eher Feierabend, Fernsehsessel und Pantoffeln.

Dieses Heimeligkeitsgefühl den etwa 1.000 Ausgegrenzten zu vermitteln, die sich zur Vorweihnachtszeit in der Kirche zum Heiligen Kreuz in Kreuzberg einfinden, ist die in Thermoskannen, Großkochtöpfen und Weihnachtsliedern transportierte Losung des Festes der Obdachlosen. Initiiert wird dieses Fest von der Arbeitsgemeinschaft „Leben mit Obdachlosen“, einem Zusammenschluss von 70 kirchlichen und sozialen Institutionen der Obdachlosenhilfe in Berlin.

Auch dieses Mal ist die Kirche voll, dafür haben Werbezettel in Suppenküchen und Wärmestuben gesorgt, der Rest hat es über den Buschfunk erfahren. Schon um 13 Uhr findet sich kaum noch ein leerer Stuhl im Kirchenraum. Still und wohl erzogen sitzen die meisten da: der Rentner mit Strickmütze neben der jungen Sozialhilfeempfängerin aus Halle, der 27-jährige Punker André neben dem arbeitslosen Hundebesitzer; und gegenüber sitzt Joseph, ein bärtiger Pole aus Danzig. Unterhaltung findet anfangs kaum statt, man wartet aufs Essen. Fast alle haben trotz der Wärme ihre Jacken angelassen. Ein Krakeeler draußen darf erst rein, wenn er die Bierflasche beim Pfarrer abgegeben hat. „Damit es keine Randale gibt, gilt im Saal Alkoholverbot“, erklärt eine Helferin. Wer trotzdem trinken will, „besäuft sich auf dem Klo“, sagt Rolf, einer der es wissen muss, weil er jedes Jahr hierher kommt.

Die Stimmung ist friedlich, wenn auch nicht familiär. Beim Drängeln um die ersten Hähnchenhälften schubbern abgewetzte Anorakärmel an verwegen tätowierten Unterarmen. Während vorne am Altar eine Kapelle „Those were the days“ fidelt, kauen die Gäste gedankenversunken, ab und an nickt einer dem anderen zu. Kein krachlederner Radau. Man gibt sich artig Mühe, auch das mit der Mülltrennung zu verstehen: die Plastikgabeln in die eine Tüte, die Hühnchenknochen in die andere. Nur verstohlen huscht ein Lächeln über das faltige Gesicht von Johannes im sorgsam gebügelten Hemd, als der Charlie-Chaplin-Imitator ihm die Hand schüttelt. Ein gefleckter Hund irrt duch den Saal.

„Da ist der Südsterntisch. Dann gibt es die Rentnercliquen. Alkoholiker und die Junkies meiden einander. Hier vorne rechts sitzen die Punks. Von denen sind aber wegen Atheismus und Weihnachtsatmo wenige da“, erklärt die 40-jährige Helga, die schon „gar nicht mehr weiß, wie lange“ sie obdachlos war, die Sitzordnung. „Auf der Straße ist jeder isoliert. In der Not rottet man sich kurz zusammen wie hier, dann wird man abgefüttert, danach spaltet sich das wieder, und jeder zieht sein eigenes Ding durch“, formuliert sie ihre Philosophie der Straße. Indes haben fast alle hier eine Bleibe. Sei es eine „kleene Einzimmerwohnung ohne Strom für 800 Mark in Charlottenburg. Wees ick, wie lange dit Amt dit bezahlt“, wie bei Heinz. Oder „zu viert uff'm Zimmer“ im Männerwohnheim, wie bei seinem Gegenüber, das sich schon den neunten Löffel Zucker in den Kaffee rührt. „Der Anteil an ganz normalen Armen gegenüber Obdachlosen ist angestiegen. Die bilden jetzt die Mehrheit“, kommentiert ein regelmäßiger Helfer des Festes die Gästeschar.

Auch wenn Pfarrer Joachim Ritzkowsky warmherzig versichert: „Euch, lieben Schwestern und Brüdern, Gottes Segen! Ich freue mich, dass es euch gibt!“, ist bei diesen doch wenig „Wir-Gefühl“ spürbar. Vielmehr ist an den Tischen eine Summe von Einzelschicksalen versammelt, deren Traurigkeit in leeren Blicken Bände spricht. Es rauscht vorbei, als ein Aktivist der AG „Leben mit Obdachlosen“ daran erinnert, dass in der neuen Hauptstadt Berlin obdachlose und arme Menschen immer mehr von öffentlichen Orten durch Polizei oder private Wachschützer vertrieben werden. Auch der Aufruf einer Ehrenamtlichen zu einer am 17. Dezember veranstalteten „Armutskonferenz von unten“ nach Friedrichshain zu kommen, um als Betroffene gemeinsame politische Ziele zu erarbeiten, richtet sich an ein Solidargefühl, das wohl nur bei den wenigsten vorhanden ist, auch wenn ein Torkelnder sofort euphorisch jubelnd sein Kommen verspricht. Trotzdem taut die Stimmung mit vollen Mägen und reichlich Festprogramm im Laufe des Nachmittages deutlich auf. Die Ausdruckstänzerin Maria o Sol wirbelt barfuß über den Kirchenboden, verteilt Margeriten und lässt Blumenblätter auf die struppigen Köpfe regnen, die mit lila Federboas behängten „Gropiusstädter Zicken“ krähen „Berlin, Perle an der Spree“, und als zwei Zivildienstleistende ihre „Angie“-Version mit Gitarre zum Besten geben, wagen sich sogar zwei mit schüchternen Tanzbewegungen nach vorn. Am Ende fand auch Hans mit der Lederkappe „alles janz dufte, janz schau“. Einzig ein gepflegter älterer Mann in kariertem Jacket meckert, die vor zwei Jahren auftretende Bauchtänzerin habe gefehlt.

Bevor der Pfarrer zum Abschluss Tabakpäckchen verteilt, ist noch ein „Vaterunser“ dran, in das die Besucher mit feierlichen Mienen einstimmen. „Lasst uns froh und munter sein“, hebt gleich darauf der Heilig-Kreuz-Chor an, „und mal richtig auf die Kacke haun“, dröhnt einer, der sich schon in die Schlange Richtung Ausgang eingereiht hat. Bepackt mit Thermo-Einlegesohlen, einem eingeschweißten Kuchen und einem Päckchen Tabak setzt sich kurze Zeit später aufgekratzt ein kleiner Tross in Richtung Hallesches Tor in Bewegung.

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