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Ein Homer in der Moderne

Einladung zur Wiederentdeckung: Der Erzähler und große Unzeitgemäße John Cowper Powys  ■   Von Frank Schäfer

John Cowper Powys ist ein Mythologe von Graden, Naturmystiker, kosmologischer Scharlatan und polytheistischer Exzentriker. 1872 geboren und konservativ sozialisiert, lässt er Frau und Kind in der englischen Heimat zurück, um nach Amerika zu emigrieren und dort zwanzig Jahre lang als Vortragskünstler, als One-Man-Show in Sachen Literatur durch die Lande zu tingeln und nebenher Romane, Gedichte und lebens- beziehungsweise pseudophilosophische Traktate zu veröffentlichen.

Auf einer dieser ausgedehnten Vortragsreisen lernt er Phyllis Playter kennen, sein „Elementarwesen“: eine moderne Frau, die sich auf ein Leben mit diesem knorrigen, über zwanzig Jahre älteren Archaiker einlässt – der statt Joyce oder Proust lieber das Neue Testament, Horaz und immer wieder Homer liest. Gemeinsam ziehen sie aufs Land, in die Einsamkeit von Columbia County (später Wales). Hier versucht Powys erstmals, den Lebensunterhalt der beiden nur durchs Schreiben zu bestreiten, was ihn zu einer geradezu erschreckenden Produktivität anspornt. Ein halbes Dutzend Bücher erscheint in der Zeit von 1929 bis 1934, neben essayistischen Brotarbeiten Powys' vier kanonische Werke: die monumentale, zwölfhundert Seiten dicke „Glastonbury Romance“ (1932), seine umfängliche „Autobiographie“ (1934) – beide Monolithen sind übrigens immer noch günstig bei Zweitausendeins zu haben – und die gerade erschienenen, kaum weniger feisten Romane „Wolf Solent“ und „Der Strand von Weymouth“ (ersterer wieder aufgelegt, letzterer nun erstmals ins Deutsche übersetzt). Mit diesen beiden Büchernkommt man für unter hundert Mark literarisch durch den Winter – zumindest wenn man sich einzulassen gewillt ist auf Powys' archaisch-visionäre, aber durch reichlich Empirie gesättigte, suggestive und bilderreiche Sprache; auf diese Prosainflation, dieses skurrile, oft genug abseitige, mitunter auch so überaus form- und stillose Wortgespinst.

Man sollte sich das mal zumuten: „Vor seinem Auge erhob sich, kompliziert und unmenschlich gleich einem sich bewegenden Turm von Instrumenten und Schaltern, das ungeheuerliche Gespenst der modernen Technik. Er hatte das Gefühl, als würde bei all diesen Aeroplanen, die gleich allgegenwärtigen Aasgeiern in jede Zufluchtsstätte hineinspionierten, bei dieser Invasion aller Wege durch eisengepanzerte, kolossalen Käfern gleichende Motorenwagen, da kein Meer, kein See, kein Fluss frei war von pulsierenden, dröhnenden Maschinen – als würde das Eine, Wertvollste von allem in der Welt langsam dahingemordet. In dem staubigen, von der Sonne erhellten Raum des kleinen tabakfleckigen Waggons schien er ein dahintreibendes und hilfloses Abbild des ganzen Erdenrundes zu sehen. Und er sah es blutend und geopfert gleich einem glattbäuchigen vivisezierten Frosch. Er sah es ausgehöhlt und ausgemeißelt und ausgescharrt und geeggt. Er sah es aus der surrenden Luft herab von Falken gejagt. Er sah es verstrickt in ein zitterndes Netz der Vibrationen, sich hebend und erschaudernd unter der Last von Eisen und Stein.“

Das sind die Ansichten und Meinungen von Wolf Solent, der Hauptfigur des gleichnamigen Romans (der in Deutschland von ähnlich gestimmten Dichtertemperamenten wie Hesse und Jahnn hymnisch gefeiert wurde). Ein durchaus typischer Protagonist: ein wenig lebensuntüchtig, weltvergessen, aber mit einer überbordenden, ekstatischen Phantasie begabt – und vor allem ein Kulturpessimist und Zivilisationsfeind wie der Autor. Hier manifestiert sich auch schon das Thema, das zeit seines Lebens das Gravitationszentrum seines Schreibens bildete: die Moderne mit all ihren vermeintlich inhumanen Weiterungen. Er formuliert grundlegende Kritik an der Urbanisierung und Industrialisierung, der Verwelt- und Verwissenschaftlichung, an dieser Reduktion der Realität auf das rational Fassbare, Messbare. Eben weil auf diese Weise „das Eine, Wertvollste von allem in der Welt langsam dahingemordet“ wird.

Was Powys umtreibt, ist mithin das Problem der Erlösung in einer heil- und gottlosen Welt, ein Problem, an dem so viele „unbehauste Menschen“ in jenen Jahren laborierten. Er indessen hat eine Lösung parat, die er nicht nur literarisch, sondern auch im richtigen Leben konsequent umzusetzen sich bemüht. Er reagiert auf die allgemeinen Säkularisierungstendenzen des Zeitalters mit einer halsstarrigen Gegenbewegung, einer forcierten Sakralisierung. Er lässt das Metaphysische in allen erdenklichen Ausprägungen und Derivaten (ob in Form von alten Sagen und Legenden oder in Gestalt der verschiedensten Glaubensformen: des Christentums, Pantheismus, Animismus, Taoismus, Fetischismus, der Naturmystik etc.) Gestalt werden und hält es dem technologischen Zeitalter immer wieder als großes und fast immer siegreiches Prinzip entgegen.

Dieser Dualismus strukturiert fast alle seine Romane. In „Wolf Solent“ etwa steht nur eine Seite nach der wortreichen Diffamierung der Moderne, gewissermaßen komplementär dazu, eine beinahe mystische Glückserfahrung: „Als er durchs offene Fenster hinausstarrte . . ., gab er sich einem Gefühl hin, das ihm stets besonderes Vergnügen bereitete, dem Gefühl, sich selbst als prähistorischen Riesen zu denken, der mit müheloser Leichtigkeit neben dem Zug dahinlief, über Hecken, Gräben, Wege und Teiche hüpfte und in seiner naturgeborenen ruhigen Schnelligkeit leicht Schritt hielt mit dem lärmenden Mechanismus all jener Kolben und Triebräder.“

Wenn er nur wollte, der Riese, könnte er natürlich auch überholen . . . So kurios das alles anmuten mag, ein Blick in die Tagebücher (die letztes Jahr in einer guten Auswahl im Residenz Verlag erschienen sind) beweist doch: Powys hat das wirklich gelebt. Er hat sich dergestalt aus der Welt fallen lassen, dass er es mit seiner Chronistenpflicht nicht sonderlich ernst nehmen kann. Merkwürdig zeitlos sind diese beiden Romane, archaisch geradezu, und man könnte durcheinander kommen, wenn nicht gelegentliche Signalmarken (wie etwa die „Aeroplanen“) die Handlung im frühen 20. Jahrhundert situierten. Diese vorzeitliche, eben mythische Aura ist nicht zuletzt auch der konventionellen Form seiner Romane geschuldet. Powys gibt noch einmal den gottgleichen, nachgerade homerischen Rhapsoden und hält so die Erinnerung an die ganz alte, mündliche Erzähltradition wach.

John Cowper Powys: „Wolf Solent“. Aus dem Englischen von Richard Hoffmann. Zweitausendeins, Ffm. 1999. 704 S., 24 DM. „Der Strand von Weymouth“. Aus dem Engl. von Melanie Walz. Hanser, München/Wien 1999. 599 S., 68 DM

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