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Nächte, wodkafeucht

■  Die deutsch-russische Boheme hat's gut, sie kann doppelt feiern. Bernd Wagners hintersinnige Novelle „Club Oblomow“

Alles fängt optimistisch an im Club Oblomow: Der Großzügigkeit der Exilfürstin Jekaterina Pawlowa verdanken die Bohemiens ihr Haus in Berlin-Mitte. Einzig die Pflege der deutsch-russischen Freundschaft machte die nette Dame zur Bedingung. Weshalb „die Hauptfeste doppelt gefeiert wurden, zuerst nach dem gregorianischen und eine Woche später nach dem orthodoxen Kalender“.

Obendrein dürfen eingetragene Clubmitglieder auf ein sattes Stipendium aus dem Nachlass der hochbetagten Gönnerin hoffen. Dazu haben sie zum Nachweis der Bedürftigkeit „jegliche Arbeit, insbesondere die künstlerische, unverzüglich einzustellen“.

Max, der Icherzähler und Autor eines 641-mal verkauften Romans, verbringt nunmehr seine Zeit mit dem Ausradieren von Anstreichungen in antiquarisch erworbenen Büchern und mit ausgedehnten Spaziergängen, bei denen es ihn immer wieder in den Club zieht. Doch das Ableben der russischen Adligen lässt auf sich warten. Die zunehmende Geldnot der Mitglieder macht erfinderisch. Sie schicken einen Antrag nach Brüssel, ihre „Kunstbrache“ wie landwirtschaftlich nicht genutzte Flächen mit EU-Mitteln zu subventionieren. Leider trifft bis zum Ende des Romans kein wie auch immer gearteter Bescheid für ihren bahnbrechenden Vorschlag zur Nichtproduktion von Kunstwerken ein.

Der 1948 im sächsischen Wurzen geborene und 1985 nach Westberlin ausgereiste Bernd Wagner bietet nach seinem lebensprallen Erfolgsroman über die Wendezeit, „Paradies“ (1997), nun ein nicht minder vergnüglich bis abgründig episodenreiches Panoptikum. Das Leben einer Boheme zwischen Bier und Billard, Schach und wodkafeuchten Freundschaftsnächten mit russischen Interpretinnen und zwielichtigen Geschäftsleuten.

Irgendwann sucht der neugierige Clubcomputer den Dialog, will sich ein Bild über diese Clique machen. Der an Schreibentzug leidende Icherzähler geht auf die Bildschirmfragen ein, zunächst vorsichtig: Worauf er warte? – Auf den Tod. – Wessen Tod? – Den der Fürstin. – Weshalb? – Eine Sorge weniger. – Welche? – Die finanzielle. Aus dem quirligen Clubleben heraus steigt der Erzähler tiefer und tiefer in die Zwiesprache mit der unersättlichen Maschine. Bald wird klar, da findet kein Dialog mit einer neuen Generation wissbegieriger Computer, sondern per Internet mit einem geheimnisvollen Gegenüber statt.

Bei Bernd Wagners schalkhaften Geschichten darf man immer auf Überraschungen gefasst sein. Er lässt keinen Zweifel an der tatsächlichen Existenz des Clubs aufkommen. Zugleich versteckt er den Schlüssel für seine modernen, bis zur Askese eigennützigen Bohemiens augenzwinkernd bereits im Titel des Romans: Oblomow. Über die Lebenstüchtigkeit dieses russischen Adligen hatte Iwan Gontscharow schon 1859 einen kontrovers diskutierten Roman geschrieben.

Zum Schluss treten unerwartet Komplikationen ein. Die Absicht der Fürstin, ihr Testament zu Ungunsten des Clubs zu ändern, bringt dessen Kern auf einen genialen Plan. Um so unerwarteter bricht das Ende mit einem Hauch russischer Mystik herein. An dieser Stelle mausert sich die hintersinnige Bohemiennovelle zu einem furiosen Krimi. Nur so viel sei verraten: Schach besiegt Billard, und der Icherzähler stirbt einen unerwarteten Tod. Wie das alles zusammengeht? Erstaunlich schlüssig. Udo Scheer

Bernd Wagner: „Club Oblomow“. Ullstein Verlag, München 1999. 192 Seiten, 36 DM

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