: Kindersex, Lügen und popglasierte Videoinstallationen
■ Eine Blütensammlung der schönsten Missbrauchsklischees: Die Uraufführung von Thomas Jonigks „Tätern“ scheitert in Hamburg
Vielleicht gibt es doch ein paar Themen auf der Welt, bei denen man verlangen darf, dass der Ernst ihrer Darstellung zu der Größe des behandelten Schmerzes in einem annehmbaren Verhältnis steht, bevor sie auf die Bühne kommen. Kindesmissbrauch, könnte man vermuten, wäre so ein Thema. Die Persönlichkeitszerstörung durch Grenzverletzungen und ihre komplizierte gesellschaftliche Wahrnehmung und Behandlung schaffen eine empfindliche Materie, die höchste Ansprüche an ein Drama stellt – gerade im Gegensatz zur medialen Behandlung, die Vergewaltigung von Kindern im Trend als Doku-Horror ohne biografische und psychische Zusammenhänge benutzt.
Wenn dann jemand wie Thomas Jonigk diese erste Erwartung an ein seriöses Vorgehen mit seinem Stück „Täter“ vom Tisch fegt und stattdessen seine Figuren aus medienwirksamen Zitaten und offensichtlichen Klischees montiert, paart sich das Unverständnis noch mit Neugier. Kann die Inszenierung serientauglicher Plattitüden bei den Tätern und neunmalkluger Selbstbetrachtungen bei den Opfern die angespannte Oberfläche bilden, durch die man die Gesetze des Grauens erkennen lernt? Die Hamburger Uraufführung am vergangenen Mittwoch durch Christina Paulhofer, die einspringen musste, weil der ursprünglich verpflichtete Regisseur Nicolaus Stemann das Stück zurückgegeben hatte, zeigt leider nur, wie man die angelegte Peinlichkeit in eine echte Zumutung steigern kann.
Menschliche Selbstkarikaturen, die sich auf der Ausdrucksbreite des nachmittäglichen Exhibitionisten-TVs bewegen, plappern und kaffeeklatschen über das Thema, als ginge es um Politik und Pickel. Auf der Malersaal-Bühne des Hamburger Schauspielhauses sieht das dann beispielsweise so aus: Der Tierarzt, ein Kinderficker aus Überzeugung und Leidenschaft, und seine Gattin, ein blondes Dummchen hinter einer Bilbo-Maske versteckt, reden in vollstem Selbstdarstellungstrieb über die Situation, als die Frau den Mann bei der Vergewaltigung der Tochter erwischt und dieser dafür die Schuld gibt, und als theatralischer Holzhammer wird jedem Satz ein brüllender Publikumslacher vom Band hinterhergeschickt.
Verzuckert mit den handelsüblichen Popglasierungen des jungen Theaters, fetzige Musik, schrille Klamotten, Rede ans Publikum, Videoscreening und Slapstick-Bewegungen, geht es in diesem aufgeregt flachen Stil weiter. Die Täter, schön paritätisch zwei Männer und zwei Frauen, kalauern sich durch alle Komplexe des Themas, die in bester Journalmanier kurz angerissen und beiseite gelegt werden. Und auch die Opfer bleiben im Rhythmus der Pointen und Gags, die nirgends so deplatziert wirken wie bei Missbrauchsopfern. Das geht dann so: Der missbrauchte Junge: „Erinnere dich an den ersten Sex.“ Das missbrauchte Mädchen: „Ich habe keine Erinnerung an die Zeit vor meinem zweiten Lebensjahr.“
Würde diese Dramaturgie der Pointen richtig wehtun, dann könnte man dahinter noch aggressive Medienkritik am Beispiel eines extrem heiklen Themas vermuten. Aber da die Regisseurin offensichtlich aus Angst vor Beklemmung und Haltung in den Klamauk flieht, bleibt der Eindruck einer unangenehmen Distanzierung, die in ihrer Hilflosigkeit das Thema dem Spott ausliefert. Außer dem sozialpädagogischen Begehr, ein verdrängtes Problem mit den Mitteln des Poptheaters aktuell und brisant erscheinen zu lassen, vermisst diese Inszenierung jede Position zum Text. Man muss nicht einmal ein großer Moralzausel sein, um sich zu wünschen, dass dieses unausgereifte Spektakel sofort wieder aus dem Programm genommen wird. Der vor einigen Jahren mit der jungen britischen Dramatik bei deutschen Autoren eingezogene Sinn für die Tragödien der Gegenwart wird mit dieser Blütensammlung der schönsten Missbrauchs-Klischees auf einen Tiefpunkt gebracht, den man dieser nötigen Erneuerung der deutschen Dramatik hätte ersparen können. Kees Wartburg
Regie: Christina Paulhofer; Ausstattung: Nina Wetzel. Mit Karin Pfammatter, Almut Zilcher, Anne Weber, Wolf Aniol, Bastian Trost. Weitere Aufführungen: 13./14./16. Dezember
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