Zwischen zwei Sorten von Eingeborenen

■  Der stellvertretende Berliner Büroleiter des „Spiegel“, Hajo Schumacher (35), hat in seinem ersten Hauptstadt-Jahr ein verwirrtes Idyll, verunsicherte Politiker, verschobene Links-rechts-Koordinaten, eine schleichende Lewinskysierung und die entspannteste deutsche Großstadt gefunden

Ich arbeite seit einem Jahr in Berlin. Vorher war ich in Hamburg und Bonn, studiert habe ich in München. Berlin ist die entspannteste deutsche Großstadt. Ich hatte bislang kaum Kontakt mit echten Berlinern. Im politischen Geschäft trifft man alle möglichen Leute, aber die meisten stammen nicht aus der Hauptstadt. Zwei Sorten von Eingeborenen sind mir aufgefallen: Es gibt so eine Sorte alter Westberliner, die ständig vor sich hin maulen, weil nichts mehr so ist wie früher. Von denen habe ich gelernt, dass man als Neuberliner nicht über Berlin schreiben darf, weil man keine Ahnung hat. Man ist erst kompetent, wenn man zwanzig Jahre in Kreuzberg gewohnt, mehrere Häuser besetzt und Wasserbomben geschmissen hat. Das finde ich putzig. Die zweite Sorte besteht aus Bielefeldern oder Bambergern, die einem pausenlos erklären, wie Hauptstadt geht. In Mitte gibt es eine Szene gut aussehender Menschen, die sich ständig gegenseitig versichern, wie aufregend sie alle sind.

Es gibt nicht nur ein Berlin. Wenn die Leute sagen, sie finden Berlin so spannend, dann meint jeder etwas anderes. Berlin ist permanenter Wechsel. Alle paar hundert Meter bist du in einer völlig anderen Welt. Faszinierend finde ich den Klub Maria am Ostbahnhof. So wünscht man sich Deutschland fürs nächste Jahrtausend. Einen Abend legen da zum Beispiel Ole und seine Kumpels auf. Ole arbeitet viel mit Computern und lebt die Hälfte des Jahres in San Franciso. Er stellt mir Oleg vor. Oleg kommt aus Sankt Petersburg und hat dort den einzigen Laden für TripHop und Trance und träumt davon, russische Djs nach Deutschland, zuerst natürlich nach Berlin, zu bringen. Oleg wiederum stellt mir Ian vor. Der kommt aus Irland, fummelt auch mit Computern rum und hat zwei schwäbische Mädchen dabei, die für ein Independent Label arbeiten. Und diese Party wird von Christian übers Internet in die ganze Welt übertragen. Das gibt's in Deutschland nicht noch einmal, glaube ich.

Auch der Journalismus wird etwas völlig Neues – ein gigantisches Projekt, für das es kein Vorbild gibt und bei dem noch keiner weiß, was herauskommt. 50 Jahre lang fehlte Deutschland eine Hauptstadtpresse. Alle Medien waren in Bonn nur zu Gast. Viele Journalisten fielen wie die Politiker nur von montags bis freitags ein. Da war alles sehr kuschelig, sehr übersichtlich, dieses Miteinander. Die Wege waren immer die gleichen, die Dialoge meistens auch, erst recht die Kneipen. Jeder wusste, was er schreiben durfte und was nicht. Fehlte nur noch ein Jägerzaun drumherum. Dieses Berechenbare hatte seinen Reiz, weil es Ausdruck dieser vergangenen stabilen Jahre war. So. Und nun verliert sich dieses Idyll auf einmal in dieser Hauptstadt und ist erst mal verwirrt.

Die Bonner flüchten sich in eine Kneipe, die „Ständige Vertretung“ heißt und Kölsch serviert, und wundern sich immer noch über zehn Tageszeitungen und einen Schwung von Radio- und TV-Stationen, die mitunter die alten Bonner Regeln nicht kennen. Es ist ja kein Geheimnis, dass Politiker X ein kleines Alkoholproblem hat und sich Politiker Y vielleicht die Woche über mit seiner Praktikantin vergnügt. In Bonn schrieb man das nicht. Was ich übrigens auch völlig in Ordung finde. Denn privat bleibt privat, solange es nicht politisch instrumentalisiert wird. Doch bei dem Konkurrenzdruck hier ist die Verlockung für viele sicher groß, öfter mal unter der Gürtellinie zu operieren. Und auf einmal werden Sachen veröffentlicht, wo du denkst, das kann doch nicht wahr sein! Vielleicht erleben wir in Berlin eine Lewinskysierung der Medien.

Aber das wird ein sehr kurzfristiges Vergnügen. Denn die Reaktion der Politik ist jetzt schon zu spüren. Viele sind verunsichert und ziehen sich zurück, es ist nicht mehr so vertraut, so sicher wie im Treibhaus Bonn. Bislang waren die deutschen Politiker viel offener als ihre englischen oder französischen Kollegen. Diese Offenheit wird es in Berlin vielleicht nicht mehr lange geben. Hier gibt es viel mehr Mitspieler. Und die sind unberechenbarer. Alles wird schnell und überraschend. So wie der Kampf zwischen Tagesspiegel und Berliner Zeitung. Das ist doch verrückt, wie schnell sich deren Rollen geändert haben. Die Berliner Zeitung galt vor einem Jahr als die neue Süddeutsche Zeitung, mit einem mächtigen Verlag Gruner & Jahr dahinter und einer erstklassigen Mannschaft, zumindest was die politische Berichterstattung angeht. Da wollte jeder junge Journalist hin, das war die Washington Post von Berlin. Doch innerhalb eines Jahres ist die Berliner Zeitung vom strahlenden Vorbild zu einer ganz normalen Tageszeitung mit der üblichen stagnierenden Auflage geworden und eben nicht zum großen überregionalen Blatt neben FAZ und SZ. Das Feuilleton, anfangs ebenfalls toll besetzt, hat sich inzwischen fast komplett verabschiedet. Und ausgerechnet der Tagesspiegel, diese elend graue Zehlendorfer Veranstaltung, ist vor allem durch den neuen Chefredakteur Giovanni di Lorenzo plötzlich ein spannendes Blatt geworden. Ich finde diesen Zeitungskampf richtig positiv. Das ist wie Hertha gegen TeBe. Das hält frisch. Und Anfang 2000 kommt noch die deutsche Ausgabe der Financial Times. Das wird die nächste Runde.

Was noch auffällt: Die gewohnten Links-rechts-Koordinaten stimmen nicht mehr. In den letzten Wochen war vor allem die konservative FAZ die stärkste Stütze der Regierung Schröder und die linke Frankfurter Rundschau oberkritisch. Oder die Welt. Die war bis vor kurzem hoch subventioniert und man wusste fast immer, was in den Artikeln steht. Heute ist sie die einzige Zeitung, die deutlich an Auflage zulegt, vielleicht auch, weil sie inzwischen ernsthaft über die Grünen schreibt und nicht mehr mit dieser Leutnant-der-Reserve-Attitüde. Wenn es um die vertraute Schlachtordnung geht, fällt die Welt allerdings reflexartig in alte Muster zurück: Ein Riesenskandal wie die Affäre Kohl fand dort zunächst nur beiläufig statt.

Dennoch ist die Berliner Republik nicht mehr so extrem wie die 70er- und 80er-Jahre. Es gibt den Typus Dregger nicht mehr und den Typus Ditfurth auch nicht. Dafür haben wir jetzt andere Entertainer wie diesen Kieler SPD-Abgeordneten aus der Streifenhemd-Abteilung, der gemeinsam mit einer ZEIT-Redakteurin fortwährend die „Generation Berlin“ ausruft. Leider sind sie immer noch die einzigen Mitglieder. Aber immerhin haben sie das Gefühl, eine Jugendbewegung anzuführen. Da kommen die Gucci-Dutschkes.

Immerhin hat die taz ihren Platz in der Hauptstadt. Taz ist Berlin und Berlin ist taz. Mit ihrem mauligen Unterton klingt sie viel metropolitaner als dieser Laubenpieper-Patriotismus der Lokalpresse. Gerade die Meinungsseite ist bemerkenswert, vor allem wenn Greffrath und Küppersbusch schreiben. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn die taz in Richtung New Yorker gegangen wäre. Mir fehlt die Hauptstadtillustrierte, eine intelligente Mischung aus Politik, aus Klatsch, aus Provokation, aus neu und nachdenklich. Aber die taz macht so weiter wie früher, obwohl sie etwas breitschultriger durch die Stadt laufen könnte.

Aufgeschrieben von

Annette Rollmann