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■ Ein Archipel des Denkens – Leben und Werk des Schriftstellers Édouard Glissant
Das Werk Édouard Glissants hält unerschütterlich am Glauben an die Wirksamkeit und Machbarkeit eines Kulturengemenges fest. Sicherlich ist seine karibische Herkunft ausschlaggebend für seinen Weltblick.
Glissant wird im Jahre 1928 als Sohn eines schwarzen Plantagenverwalters auf Martinique geboren. In der Schule kommt er mit den Ideen der „Négritude“ in Berührung, einer kulturellen Strömung, die auf das Potenzial einer eigenen schwarzen Identität abhebt. 1946 emigriert er nach Paris, um an der Sorbonne zu studieren. Das intellektuelle Milieu im Paris der Fünfziger- und Sechzigerjahre – Entkolonialisierung, Algerienkrieg etc. – tut ein Übriges, Glissants Vorstellungen von der Kraft kreolischer, also heterogener Gesellschaften zu festigen. In den Sechzigerjahren tritt er aktiv für die Loslösung des Überseedépartements Martinique von Frankreich ein. Die Überfrachtung der Insel seitens der französischen Kultur ist für ihn eine Gefahr. Dominanz erstickt Vielfalt. De Gaulle verbietet Glissant daraufhin, Martinique zu betreten. Erst 1965 kehrt er in seine Heimat zurück, wo er ein Kultur- und Forschungszentrum für Martinique-Studien gründet.
In den 80er-Jahren arbeitet Glissant als Chefredakteur des Unesco-Kuriers, in den 90ern bekleidet er Professuren in den USA, zuerst in Louisiana, dann in New York. Seit 1993 ist er Vizepräsident des internationalen Schriftstellerparlaments in Straßburg. Sein Eintreten für das Überleben der Kultur(en) der Welt ist mittlerweile auf eine Öffnung der westlichen Kulturen gestoßen, seine Beharrlichkeit hat sich gelohnt.
Glissants Romane und Essays zeugen von der konsequenten Auseinandersetzung mit der Kultur seiner Heimat und dem Phänomen der Kreolisierung. In dem Essay-Band „Zersplitterte Welten“ (1981) beschreibt er die komplexe Kultur der Antillen, in der Literatur wie in der Musik. Seine Romane blicken zurück in die Zeit der Sklaverei. Die Figuren sind Sklaven und Herren, Entflohene und Verfolger. Glissant zeichnet ihre Spuren, ihre Verwicklungen vom Afrika des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.
In seinem neuesten Werk, dem Essay „Traktat über die Welt“ (1997, deutsch 1999), stellt Glissant das Ergebnis seines archipelischen Denkens zusammen: Die Welt, auch in Europa, hat ihre Eindeutigkeit verloren, es bilden sich Inseln der Kultur, die miteinander in Verbindung stehen, sich verflechten, ohne zu einem amorphen Brei zu verkommen. Martin Hager
Glissants Werke sind auf Deutsch beim Heidelberger Wunderhorn Verlag erschienen:„Zersplitterte Welten“, 1991; „Die Entdecker der Nacht“, 1991; „Die Hütte des Aufsehers“,1983, „Faulkner, Mississippi“, 1997. Neu erschienen: „Traktat über die Welt“,1999, 240 S., 46 DM. Kürzere Essays und Gedichte finden sich in der Zeitschrift „Lettre International“, Nr. 24, 28, 37 und 42 (je 13 DM).
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