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Russland lockert Druck auf Grosny

■  Nach internationaler Kritik lässt Moskau sein Ultimatum verstreichen. Die Armee will Feuerpausen für die Flucht der Bevölkerung aus der tschetschenischen Hauptstadt einlegen

Moskau (AFP/dpa) – Die russische Armee hat ihre Strategie zur Eroberung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny am Wochenende unter dem internationalen Druck nochmals geändert. Ein ursprünglich bis Samstag befristetes Ultimatum zur Räumung der Stadt verstrich ohne weitere Konsequenzen. Stattdessen bot Katastrophenminister Sergej Schoigu den Zivilisten tägliche Feuerpausen zwischen 8 Uhr und 14 Uhr an, in denen sie Grosny auf zwei gesicherten Korridoren verlassen könnten. Schoigu wurde von Ministerpräsident Wladimir Putin beauftragt, vor Ort die Evakuierung zu beaufsichtigen. Zudem kündigte das Militär am Samstag an, den Beschuss Grosnys bis gestern um Mitternacht auszusetzen.

ber die Zahl der Bewohner, die Grosny verlassen haben, gibt es unterschiedliche Angaben. Unter Berufung auf russische Militärs berichtete der Fernsehsender ORT, etwa 700 tschetschenische Zivilisten hätten die Stadt verlassen. Dagegen war im Moskauer Fernsehzentrum lediglich von 180 Flüchtlingen die Rede. Das Fernsehen zeigte Bilder von überwiegend älteren Menschen, die mit weißen Fahnen zu den russischen Linien kamen.

Über Grosny wurden erneut Flugblätter abgeworfen, in denen die Fluchtmöglichkeiten aufgezeigt werden. Die Zahl der Tschetschenen, die sich seit dem Beginn der russischen Bodenoffensive Anfang Oktober in Grosny aufhalten, wird auf rund 40.000 geschätzt. Eine Nachrichtensperre der russischen Armee erschwert den Informationsfluss aus dem Kriegsgebiet.

Der Propagandafeldzug zur Rechtfertigung des Militäreinsatzes hält unterdessen an. Präsident Boris Jelzin warf den tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfern vor, sie wollten ihr Land in die „Barbarei des Mittelalters zurückführen“. Es sei die Aufgabe der russischen Regierung, Recht und Ordnung wieder herzustellen und die russischen Bewohner zu schützen. Die russische Armee bombardierte am Samstag unter anderem die Stadt Schali. Schali und Grosny sind die beiden letzten bedeutenderen Städte, die die Russen noch nicht unter ihre Kontrolle gebracht haben.

Die russischen Medien rechneten am Wochenende nicht damit, dass die von der EU auf ihrem Gipfel in Helsinki angedrohten Sanktionen auch umgesetzt werden. Die Kreml-nahe Zeitung Nesawissimaja Gaseta schrieb am Samstag, die EU habe Russland „kollektiv verurteilt“, vorerst drohten jedoch keine wirtschaftlichen Sanktionen. In der Tageszeitung Kommersant hieß es, Sanktionen seien unwahrscheinlich: „Die wirtschaftliche Isolation einer Atommacht ist nicht das beste Mittel, Sicherheit in Europa herzustellen.“ Der außenpolitische Berater von Bundeskanzler Gerhard Schröder, Michael Steiner, äußerte die Ansicht, das „Signal“ von Helsinki sei in Moskau „angekommen und verstanden worden“.

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