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Moderne Zivilisationskrankheiten: Die Lebkuchen-Depression ■ Von Karl Wegmann

Bei vielen sensiblen Menschen beginnt die gefürchtete Weihnachts- oder Lebkuchen-Depression sofort nach dem Ende des Sommers. Kaum sind die warmen Tage vorbei, steigt diesen Menschen der Geruch von frisch geschlagenen Tannen, Marzipan, Zimtsternen und den namengebenden Lebkuchen in die Nasen. Haben diese bedauernswerten Menschen noch vor zwei, drei Wochen lustig im Freibad ihre Bahnen gezogen, geht jetzt ihr seelisches Gleichgewicht im Affenzahn den Bach runter.

Nachdem sie viel zu früh die Weihnachtswitterung aufgenommen haben folgen zunächst Panikattacken. Wir schreiben den 15. September, aber die Lebkuchen-Depressiven fragen sich: Was schenke ich Onkel Ewald? Was koche ich am ersten Feiertag? Soll ich Tante Inge noch mal einladen, die frisst doch nur wieder die ganzen Süßigkeiten vom Baum? Dabei schwitzen die Schwermütigen wie bulgarische Gewichtheber, denn diese Fragen scheinen den Gequälten von lebenswichtiger Bedeutung zu sein. Danach fallen sie in ein tiefes schwarzes Loch. In dieser Phase sind die Gemütskranken natürlich stark suizidgefährdet, doch sie dauert nicht lange.

Hilfe naht von ungewohnter Seite: Die Weihnachts-Industrie hat schon vor Jahren auf die moderne Zivilisationskrankeit reagiert und bringt Erleichterung, indem sie ihre Weihnachtswaren immer früher in die Supermärkte schafft. So werden die Lebkuchen-Depressiven ab Anfang Oktober mit Schokonikoläusen, Dominosteinen, Saftprinten, Marzipankartoffeln und Pfefferkuchen überflutet. Das hilft ungemein – aber nicht lange. Denn natürlich stürzt sich der bis dahin lebensmüde Weihnachtsfanatiker auf die industriellen Backerzeugnisse. Er kauft und kauft und isst und isst. Kocht sich literweise Glühwein und vertilgt Berge von Mohn-Christstollen.

Nach einer kurzen Besserung werden die Depressiven dann schon nach ein paar Tagen von Brechreiz und Ekel vor dem Weihnachtsgebäck geschüttelt. Es folgen schwerste Schuldgefühle und tiefste Verzweiflung. Angehörige sollten spätestens jetzt anfangen, Weihnachstlieder zu singen oder abzuspielen, Weihnachtsgeschichten vorzulesen und Videos mit Weihnachtsfilmen griffbereit auszulegen. Auf keinen Fall Weihnachtsgebäck füttern, denn dann beginnt der Teufelskreis wieder von vorn. Lieber frisches Tannengrün aufhängen, sanftes Kerzenlicht und vielleicht ab und zu ein Tässchen Eierpunsch. Und viel, viel besinnliche Ruhe.

Die Lebkuchen-Depression ist auf dem besten Wege, Volkskrankheit Nummer eins zu werden. Durch diese heimtückische Krankheit entsteht der Volkswirtschaft jedes Jahr ein Schaden von biblischen Ausmaßen. Hier ist der Gesetzgeber gefordert. Die einzige Möglichkeit, den Weihnachtswahn zu stoppen, ist wahrscheinlich das Rotationsprinzip. Das heißt Weihnachten findet zukünftig nicht mehr an einem bestimmten, immer gleichen Tag statt, sondern das Datum wechselt. Ein Zufallsgenerator entscheidet. So könnte der Bundesinnenminister zum Beispiel kurz vor der Sommerpause bekanntgeben: Nächste Woche ist Weihnachten! Für die Industrie wäre das kein Problem (Dominosteine haben inzwischen eine Haltbarkeit von zwei Jahren) – und für die Lebkuchen-Depressiven eine echte Lebenshilfe.

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