Nigeria wird niemals eine echte Nation sein. Der Intellektuelle Aliyi Ekineh fordert die Auflösung des Vielvölkerstaates: Ein Land ohne Zukunft
Nigeria wurde während der Aufteilung Afrikas von Großbritannien zur Erfüllung seiner kolonialen Ziele geschaffen. Die Briten verschmolzen über 300 ethnische und sprachliche Gruppen, um Nigeria zu bilden. Sie berieten sich weder mit uns, noch holten sie unsere Zustimmung ein.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beschloss Großbritannien, Nigeria zu verlassen. Dafür formierte es das Land neu. Südnigeria wurde in eine West- und Ostregion geteilt. Die Grenze zwischen den beiden Landesteilen war der Niger. Aber der Fluss fließt nicht in einer Linie bis zum Atlantik. Er teilt sich. So wurde ein Teil des Nigerdeltas dem Yoruba-Volk zugeschlagen, der andere Teil dem Ibo-Volk. Im West- und Ostteil entstanden „Minderheitengebiete“, und bald begannen die Leute, über „das Minderheitenproblem“ zu reden. Die Bewohner im Nigerdelta wurden zu einem „Problem“ im eigenen Land.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Nigerdelta Öl entdeckt. Die kolonialen Machthaber hatten aber den Norden darauf vorbereitet, in Nigeria die Macht zu übernehmen. Zerstritten, schwach und ängstlich, konnten die Völker des Südens nichts tun, um die Hegemonie des Nordens herauszufordern. Stattdessen rivalisierten sie um die Gunst des Nordens – auf Kosten des Nigerdeltas.
Wie Kole Omotoso in seinem Buch „Just Before Dawn“ schrieb: „Kein Volkszähler hat sie zählen können, kein Anthropologe hat sie klassifizieren können – die hunderte Stämme und Sprachen, die das einmalige und komplexe Land namens Nigeria ausmachen.“ Manche nennen die Zahl 250, andere denken, es sind 400. Es gibt auch keine akkurate Bevölkerungszahl Nigerias. Sind es 80 oder 100 Millionen? Auf jeder Ebene des Landes hängen die staatlichen Haushalte von Öleinnahmen ab, die „nach der Bevölkerungszahl“ an Bundesstaaten und Gemeindeverwaltungen verteilt werden. Solange die Bevölkerungszahl mit den Staatsgeldern verknüpft ist, wird Nigeria nie eine verlässliche Volkszählung haben. Die Einnahmen kommen aus dem Nigerdelta, aber niemand interessierte sich jemals für das Delta.
Wer in Nigeria aufgewachsen ist, weiß, wie schwer es ist, Arbeit zu finden. Kein Nigerianer bekommt einen öffentlichen Posten außerhalb seiner Heimatgemeinde oder seines Heimatstaats. Die Bundesregierung verteilt Jobs nach regionalen „Quoten“ und Stammeszugehörigkeiten in einem korrupten Verfahren. So bekommen hoch qualifizierte Söhne und Töchter des Nigerdeltas kaum gute Jobs und emigrieren.
Jeder Besucher Nigerias spürt die Widersprüche. Im Oktober 1998 zerstörte ein „durch unnatürliche Ursachen“ entstandenes Ölfeuer weite Landstriche im Nigerdelta. Es tötete und verwundete über 3.000 Menschen, es verbrannte Städte und Dörfer, Fische und Vögel starben zu tausenden. Noch während das Feuer wütete und unsere Eltern, Töchter, Brüder und Schwestern verbrannten, sagte der nordnigerianische Staatschef: „Es wird keine Untersuchung geben.“ Und es gab keine Untersuchung.
Sein Nachfolger, General Obasanjo, hat seit seinem Amtsantritt im Mai mehrere Untersuchungen eingerichtet. Aber: Hat er etwas über das Feuer im Nigerdelta gesagt? Hat er eine Untersuchung eingerichtet? Stattdessen schickt er immer mehr Soldaten, die die Menschen in Schach halten und notfalls töten. Was haben wir also davon, in Nigeria zu bleiben?
Unser Land wurde mit einem Defekt geschaffen. Wäre es ein Haus, würde man es abreißen, um eine tragfähigere Struktur an seiner Stelle zu errichten.
Nigerias Hauptdefekt: Es besteht aus weit mehr unterschiedlichen und zusammenhanglosen ethnischen Gemeinschaften als jedes andere Land Afrikas. Jede dieser Gemeinschaften hat eine eigene Sprache, eigene Grenzen, Traditionen, eine eigene Kultur, und Hoffnung. Vor allem haben wir in Nigeria zusätzlich zu den vielen ethnischen Gemeinschaften die gegensätzlichen Religionen des Christentums und Islams. Jede besetzt ein großes Gebiet. Und jede zählt in ihren Reihen viele kriegerische Fundamentalisten.
Zum Glück merken jeden Tag mehr Nigerianer, dass dieses Land nicht bestehen kann. Aber während Nigeria mit dem Öl aus dem Nigerdelta weiterläuft, genießen Räuber, Betrüger und korrupte Geschäftemacher es als Jagdgrund. Wenn wir eine friedliche Nation wollen, die in das nächste Jahrhundert eintritt, müssen wir im Nigerdelta eine Nation gründen. Das alte Nigeria-Konglomerat, das für koloniale Zwecke zusammengeschustert wurde, kann nie eine friedliche Nation sein, wie sehr wir uns auch blutig schinden. Eine Nation ist ein politisch organisiertes Land, mit einer Seele und gemeinsamen Werten. Diese Attribute führen dazu, dass Bürger ihr Land lieben. In Nigeria tun sie das nicht.
Die Ereignisse im Bundesstaat Zamfara im Norden, der sich zum „Islamischen Staat“ erklärt hat – wenn auch mit halbherzigen Maßnahmen –, stützen diese Sichtweise. Die Menschen in Zamfara wollen ihre religiösen Pflichten erfüllen. Islam kommt für sie vor wirtschaftlicher Stabilität. Wenn sie die islamische Religion an die oberste Stelle setzen, müssen sie eine Trennung vom alten Nigeria-Konglomerat anstreben, von dieser Riesengemeinschaft an Stämmen ohne Seele.
General Obasanjo schickt keine Truppen nach Zamfara. Die Menschen dort scheinen entschlossen zu sein, ihre Ziele durchzusetzen, sie werden nicht leicht zu disziplinieren sein. Auch wir im Süden können ähnlich entschlossen mit der moralischen Unterstützung unserer Nachbarn unsere Ziele der Selbstbestimmung und des Schutzes unserer Umwelt erreichen. Wir und das Ibo-Volk waren schon immer befreundete Nachbarn. Wir teilen mit den Ibo dieselbe christliche Religion. Wir wollen aber nicht, dass sie uns regieren, und haben sie bisher nicht unterstützt.
Die Öl produzierenden Bundesstaaten des Nigerdeltas können nicht auf Dauer mit Gewalt in Nigeria gehalten werden, um sie zu Gunsten der vielen Stämme, die dieses Land ausmachen, auszubeuten. Alles, was wir wollen, ist Selbstbestimmung – wie die nur 900.000 Osttimoresen, die sich erfolgreich von der Ausbeutung durch 200 Millionen mächtige Indonesier befreit haben.
Wir rufen unsere Freunde und Nachbarn, die Yoruba, auf, mit uns zusammenzuarbeiten. Obasanjo ist kein Messias.Wir im Süden können eine bessere Zukunft aufbauen, wenn wir zusammenarbeiten und uns vom Norden trennen, der uns so lange im Rückstand gehalten hat. Wir rufen die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft um Hilfe, die einen Ausbruch ernster Gewalt in Nigeria fürchten. Sie müssen uns schnell zu Hilfe kommen. Sie sollten nicht erst auf Blutbäder warten wie in Osttimor. Aliyi Ekineh
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