Was wollen die zwei Eiszapfen?

Vielleicht soll es Entfremdung bedeuten: Nach 22 Jahren kommt mit „Johnny West“ das Schauspieldebüt Rio Reisers wieder ins Kino

Es gibt eine Menge schauspielernde Sänger und singende Schauspieler. Wahrscheinlich zu viele. Manche aber können tatsächlich beides. Allerdings: Um zu sehen, warum Rio Reiser nicht zu ihnen gehört, muss „Johnny West“ nicht allzu alt werden. Bevor er das erste Mal die Daumen aus den Hosentaschen nimmt, ist schon klar, dass einem Reisers Debüt als Schauspieler von 1977 nicht wegen seiner darstellerischen Klasse in Erinnerung bleiben wird.

Eher schon wegen Schlaghosen und Flickenjeans und weil noch AFN im Radio läuft. Die Geschichte vom Musiker, der sich Johnny nennt und sich als Roadie durchschlägt, ist ein etwas länglicher Gruß aus längst verlorenen Tagen. Einer der Roadies trägt ein T-Shirt, auf dem in einer kantigen Schrift „Superrock“ steht. 15 Jahre später würden Grunger für so etwas töten.

Inszeniert und geschrieben hat damals Roald Koller. Es war sein erster Kinofilm und auch sein letzter. Später hat er Selbstmord begangen. „Johnny West“ kam zwar in die Kinos, lief aber nur eine Woche, dann ging der Verleih, die Constantin Film, pleite. Der Geschäftsführer des Rechtsnachfolgers Neue Constantin, Bernd Eichinger, verbannte außer den echten Kassenknüllern den Großteil des Repertoires ins Lager. Dort wartete „Johnny West“ 22 Jahre. Mittlerweile ist die Kopie etwas rotstichig geworden.

Heute weiß man, dass Reiser schwul war. Damals musste er sich natürlich in eine Frau verlieben. Nicht nur, weil die bundesdeutsche Linke das mit der Homosexualität damals gar nicht so locker sah. Eher schon, damit der Film Kontur bekam, bevor er endgültig ereignislos zwischen Autobahnraststätten, Bars und billigen Absteigen mit Rei in der Tube auf der Ablage überm Waschbecken wegplätschern konnte.

Ein wenig innere Spannung soll die ungleiche Beziehung liefern, wenn der Aussteiger mit dem Tuch um den Hals auf die Tochter aus gutem Hause im Pelzmantel trifft. Das rororo-Filmlexikon meint dazu gewohnt trocken: „Diszipliniert inszenierter Autorenfilm, dem es etwas an Temperament fehlt.“ Wohl wahr: Kristina van Eyck spielt ähnlich wie Reiser, so als ginge sie das alles nichts an. Vielleicht soll es ja Entfremdung bedeuten. Tatsächlich aber fragt man sich, was die beiden Eiszapfen eigentlich voneinander wollen, außer holzschnittartige Dialoge auszutauschen. Liebe hatte man doch etwas anders in Erinnerung.

Trotzdem hat sich Reiser immer wieder als Schauspieler versucht. So spielte er zuletzt 1995, ein gutes Jahr vor seinem Tod, im Tatort „Im Herzen Eiszeit“ einen Alt-Freak, der ,zurück aus dem Knast, die alten, bürgerlich gewordenen Genossen nervös macht. Es war also weniger eine Rolle als der Versuch, Rio Reiser mit sich selbst zu besetzen. Selbst das schlug fehl. Zu steif war Reiser, zu ausdruckslos seine Mimik.

Sieht man ihm so zu, ist es fast unvorstellbar, dass Reiser alleine am Klavier sitzend Zeilen singen konnte wie „Ich werde dich lieben bis zum Tod“ und dabei gleichzeitig wahrhaftig und doch niemals peinlich klang. Was bleibt, ist die Vermutung, dass Rio Reiser vielleicht deshalb der begnadetste Sänger ohne Stimme in der Geschichte dieses Landes war, weil sein Gesicht nicht richtig funktionieren wollte. Der einzige Weg, auf dem sich Gefühle aus dem schmächtigen Körper heraus Bahn brechen konnten, war wohl diese brüchige Stimme. Man hört sie in „Johnny West“ immerhin „You Can't Hurry Love“ singen. Das ist schön, aber viel zu wenig.

Thomas Winkler

„Johnny West“, von Roald Koller, mit Rio Reiser, Kristina van Eyck, Jess Hahn, Karl Maslo u.a., 127 Min., BRD 1977 Ab morgen, 20 Uhr, Hackesche Höfe, Rosenthaler Str.40/41, Mitte