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Das große Ganze unter Berücksichtigung der Flurwoche ■ Von Andreas Milk

Mein Vermieter ist froh. Als Wohnraum knapp war und der Markt leer gefegt, sagt er, da habe er quasi jeden Hergelaufenen nehmen müssen, der um eine vakante Bleibe nachsuchte. Eigentum verpflichtet! Inzwischen aber gebe es wieder ein üppiges Angebot an Wohnungen, also könne auch ein verantwortungsbewusster, verfassungstreuer Bürger und Hauseigentümer durchaus schon mal sagen: Nö, Sie kommen mir hier nicht rein. So konnte geschehen, dass seit Ende Mai 80 Quadratmeter auf meiner Etage leer stehen.

Und so konnte vor allem geschehen, dass hier seit Anfang Juni ein Sammelsurium potenzieller Mieter ein und aus gegangen ist. Alle haben sie eine Weile mit dem potenziellen Wohnraumgewährer debattiert – und tschüss. Auf meine Frage, woran es denn liege, dass da nach Monaten immer noch niemand ..., antwortete der Wohnraumbereithalter: „Najaaa, sehen Sie – es muss jemand sein, der sich optimal in die Hausgemeinschaft einfügt!“ Aha. Hätt’ ich auch allein drauf kommen können. Aber wann fügt jemand sich optimal in die Hausgemeinschaft ein? „Najaaa, sehen Sie – das ist nicht so einfach!“ Denn so eine Hausgemeinschaft, erfuhr ich, ist ein komplexes Gefüge, ein komplizierter Mechanismus, ein sensibles Räderwerk. „Sie meinen, dass wir uns untereinander wegen der Flurwoche absprechen müssen?“, mutmaßte ich. Die Antwort waren ein mitleidiger Blick und ein Seufzen. „Das ist doch wohl eine Selbstverständlichkeit!“, blaffte mich mein Wohnraumversorger an. „Die Mietparteien als solche, um die geht’s! Die müssen halt harmonieren, Menschenskind! Ein großes Ganzes bilden!“

Ich begann zu begreifen. Und nachdem sich mein Sie-wissen-schon kopfschüttelnd Richtung schwarzes Brett von dannen gemacht hatte (eine schriftliche Weisung in Sachen Flurwoche in der Hand), ging ich in Gedanken die aktuelle Hausbesetzungsliste durch: im Erdgeschoss ein Rentnerehepaar, er harmlos, sie die klassische Fremde-Einkaufstaschen-im-Vorbeigehn-Inspizientin; daneben eine junge Dame mit feministischem Aufkleber an der Tür; im ersten Stock eine Lehrerin und ein Chirurg – sehr praktisch: Wenn einem mal beim Kreuzworträtsellösen ein Begriff fehlt oder der Blinddarm muss raus, dann geht man halt hin und lässt sich rasch helfen; im dritten Stock ich, Lokaljournalist, gut unterrichteter Kreis und Anwalt des gemeinen Volkes („Schreiben Sie doch mal was über den Dreck überall auf den Straßen, wozu sind Sie bei der Zeitung!“)

Hm. Rentner, Intellektuelle, Frauenbewegte, Schmierant – und wir alle zusammen das große Ganze? Ein Spiegelbild der Gesellschaft gar? Ich gestehe, die Gedanken meines Dingsbums waren mir schleierhaft. Und sollten es auch bleiben – bis vorgestern Abend. „Gut, dass ich Sie treffe, ich hab’ jetzt einen Mieter!“ Selten sah ich einen Mann glücklicher. „Eine Mieterin, um genau zu sein.“ Bei der Polizei sei sie. Was Gehobenes. Mit Abitur.

Mir soll’s recht sein. Ein bisschen mehr Sicherheit kann angesichts von Rentnern und Chirurgen nicht schaden. Und falls die Neue ihre Flurwoche nicht akkurat erledigt, gibt’s einen bösen Artikel über „Ordnungshüter“ im Lokalblatt. Wozu bin ich bei der Zeitung!

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