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Happy Millennium

■ Gute Schule: Marcus Jensen präsentiert heute seinen Debüt-Roman „Red Rain“

Mut hat der Mann: erwählt zum Thema seines ersten Romans ausgerechnet den Wechsel dieses Jahrtausends ins nächste. Und riskiert dabei, dass sein Buch spätestens am 2. Januar als unaktuell in der Versenkung verschwindet. Doch hat dieses Vorgehen seinen Vorteil: Marcus Jensen belastet seinen ers-ten Wurf eben nicht damit, gleich ein bedeutendes Werk deutscher Gegenwartsliteratur abliefern zu müssen, vor dem wir andächtig erschauern. Denn das – das wissen wir – gelingt nur den Allerwenigs-ten. Stattdessen ist hier einer dabei, sich seinen literarischen Weg Schritt für Schritt zu ebnen. Wir werden von ihm noch mehr lesen, es wird sich lohnen, seinen Werdegang zu verfolgen.

Und darum gehts in Red Rain: Wir befinden uns am Sylvesterabend an Bord der letzten Inlandsmaschine Richtung Berlin-Tegel. Genauer: auf der Bordtoilette. Dabei lauschen wir den Gedanken eines Vierzigers, der nicht recht weiß, wie ihm geschieht. Indianischer Gesang dröhnt aus dem Walkman, die Kehle befeuchtet sich unser Held mit Feuerwasser, mit bestem russischen Wodka. Einst war er glücklich. Einst war er mit seiner Liebsten drüben, wo ihn dieser Indianerfimmel befiel. Nun hat sie ihn zurückgeholt, seine Ex , die – Frauen an die Macht! – es zu Deutschlands jüngster Staatssekretärin gebracht hat. Sein Job: auf der Sylves-terparty der Politprominenz den echten Schamanen zu mimen. Die Maschine landet, die Bodyguards warten schon. Und es folgt eine skurrile Fahrt durch die aufgedrehte Hauptstadt, in der alle Kopf stehen, ohne recht zu wissen, warum.

Dass dies alles mit recht leichter Hand gelingt, wie geschickt ineinander montiert innerer Monolog und äußeres Chaos für echte Heiterkeit sorgen, dass dies gelang, dürfte mit an Jensens literarischer Ausbildung liegen. Mitte der Neunziger tauchte er als junger Student im Eimsbüttler „Literaturlabor“ auf, einer kulturellen Einrichtung, die damals etwas praktizierte, was heute jeder Literaturinteressierte unter dem Schlagwort creativ writing kennt. Nur hieß es etwas piefiger: Schreibwerkstatt. Unter Leitung der Lyrikerin Frederike Frei wurden Texte gerade literarischer Anfänger ihrer biografischen Sentimentalitäten entledigt und auf das zurückgeführt, was sie sind: Ansammlungen von Wörtern und Sätzen, deren Innenleben kennenzulernen und deren Gesetze es zu beherrschen gilt. Kleine Brötchen backen, war die Devise. Nicht gleich – und erst recht nicht mit Anfang Zwanzig – das Lebenswerk in Angriff nehmen.

Jensen ist diesem Grundgedanken treu geblieben. Für das Hauptwerk ist immer noch genug Zeit.

Frank Keil

heute, 20 Uhr, Café Nurfürgäste, Von-Melle-Park 8; Marcus Jensen: „Red Rain“. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1999, 172 Seiten, 29,80 Mark

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