: Der alte Imbiss im neuen Berlin
Kritische Berlin-Bücher haben derzeit Konjunktur. Doch mit dem Band „Die andere Seite der Stadt“ liegt nun eine „Ethnologie der Ausgrenzung“ vor, die mehr ist als bloße Kritik ■ Von Uwe Rada
Ein Volkspark war der Bürgerpark in Pankow nie gewesen. Anders als die vom Lenné-Schüler Gustav Meyer Mitte des vorigen Jahrhunderts angelegten Volksparks Friedrichshain, Humboldthain oder in Treptow, war der 1906 gegründete Park in Pankow von vornherein als „Schmuckstück“ gedacht. Er bildete einen öffentlichen Raum, der aber aufgrund seiner Anlage und seinen ungeschriebenen Nutzungsregeln die räumliche Trennung der Stadt in arme und in reiche Orte fortschrieb.
Am Ende des Jahrhunderts haben sich die Koordinaten verschoben. Am Eingang des Bürgerparks, an der Brücke über die Panke, steht zwar immer noch der alte, steinerne Pavillon, jenes bürgerliche Selbstbewusstsein betonende Eingangsportal, das den fließenden Übergang der Stadt in die angrenzende Landschaft markierte. Doch die Konnotation des Ortes ist eine andere, wie Peter David und Falk Hoysack herausgefunden haben. Mehrere Wochen lang haben die beiden Studenten des Fachbereichs Europäische Ethnologie an der Humboldt-Uni die Imbissbude „ethnografiert“, die seit DDR-Zeiten im Pavillon residiert. Das Ergebnis ist nicht mehr und nicht weniger als ein genauer Einblick in die „andere Seite der Stadt“, in jenen sozialen Raum von Armut und Ausgrenzung, der in den herrschenden Diskurs über die Metropole zwar Einzug gehalten hat, aber noch immer seltsam unausgeleuchtet bleibt.
Kalle zum Beispiel ist 48 Jahre alt und gelernter Schiffbauer. Dreimal wurde er geschieden, dreimal war er wohnungslos. Bis ihm Helga eine neue Bleibe besorgt hat. Helga, das ist für Kalle, Walter, Josche und die anderen Männer nicht nur die Chefin des Brücken-Imbiss, sondern auch eine soziale Instanz. „So haben zum Beispiel Kalle und Walter ihr die Verwaltung ihrer Kontoführung übergeben“, beschreiben David und Hoysack das Ergebnis ihrer ethnologischen „Feldforschung“. „In ihrer ambivalenten Position zwischen Hilfe und Kontrolle, zwischen Freundschaft und Geschäftemachen ist Helga für ihre Stammgäste unentbehrlich.“
Durch ihre Hilfe, so David und Hoysack, seien Rechnungen korrekt bezahlt worden, hätten einige der Gäste ihre Wohnungen behalten können. „Gleichzeitig bindet Helga so die Männer an den Imbiss und verdient natürlich auch an ihnen.“
Die Beobachtungen von David und Hoysack sind nur ein kleiner Teil der Ergebnisse, die die Ethnologie-StudentInnen des Projekts über „Armut und Ausgrenzung in Berlin“ zusammengetragen haben und die Michi Knecht als Buch unter dem Titel „Die andere Seite der Stadt“ herausgegeben hat.
Was diese Texte im Vergleich zur wachsenden Anzahl an Berlin-kritischen Veröffentlichungen (siehe unten) so überaus lesbar und brauchbar macht, ist zweierlei: zum einen ihre konsequent eingehaltene Perspektive, die die „andere Seite der Stadt“ aus Sicht der Ausgegrenzen und ihres ganz „normalen“ Alltags sichtbar macht. Und es ist zum andern die Anschaulichkeit, mit der sich die neue soziale und räumliche, aber auch kulturelle und ethnische Topografie der Stadt an Hand der beobachteten Orte und Milieus zusammendenken lässt. Das betrifft die Beschreibung des für den Bau der Neuköllner Stadtautobahn eliminierten Quartiers an der Wederstraße ebenso wie die Interviews mit Ostberliner Langzeitarbeitslosen. Stadtforschung einmal nicht als Flanerie, als die Kultivierung des exotischen Blicks, sondern als Exkursion in die ausgeblendete Welt derer, die unmittelbar in unserer Nachbarschaft leben.
„Was haben ein Dieb und ein Künstler gemeinsam?“, fragt Valérie Froissart in ihrem Beitrag über „zwei aufstrebende, erfolgsorientierte Männer in Berlin“, die unterschiedlicher nicht sein könnten, eines allerdings gemeinsam haben: Sie sind „illegal“. Mario, der Dieb, ist Rumäne und hat einen ganz eigenen Stadtplan von Berlin. Es ist eine „Mental Map“, in der die Frage von Polizeidichte oder Kontrollen ganz oben steht. Niemals, sagt Mario, würde er zum Beispiel im Westteil der Stadt arbeiten. Die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei erwischt zu werden, sei dort weitaus größer als im Ostteil der Stadt. Überhaupt steht Praktisches für Mario hoch im Kurs. Wenn er nicht gerade in fremde Wohnungen einbricht, campiert er bei „Freunden“, schläft oder lernt Deutsch. Seine sozialen Kontakte beschränken sich dabei ausschließlich auf das kriminelle Milieu. Berlin ist für ihn nichts anderes als eine Durchgangsstation für seine Zukunft: die Gründung einer eigenen Firma in Rumänien.
Ganz anders Daty, ein Künstler aus Guinea. Zwar wählt auch er seine Wege durch die Stadt unter dem Gesichtspunkt der eigenen Sicherheit. Doch mit dieser Heimlichkeit des Illegalen erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten mit Mario. Hatte Mario im Verlauf eines halbjährigen Aufenthaltes in Berlin gerade einmal Kontakt mit sieben Personen, bewegt sich Daty in einem für die schwarzafrikanische Community typischen Netzwerk von Beziehungen. Diese enge Vernetzung hat, so Valérie Froissart, allerdings zwei Seiten: Auf der einen Seite ermögliche sie vielfältige Formen von Solidarität, auf die besonders Neuankömmlinge und Illegalisierte angewiesen sind. „Auf der anderen Seite aber erzeugen die engen Verknüpfungen innerhalb dieser Gemeinschaft Abhängigkeitsstrukturen, die von einigen dazu genutzt werden, Schutzlose auszubeuten und an ihnen zu verdienen.“
Gerade hier, in der Beschreibung des Alltags zweier von schätzungsweise 100.000 Illegalen in Berlin, liegt die Stärke des Buches. Während sich etwa die Stadtsoziologie vorwiegend empirisch mit sozialen oder räumlichen Segregationsprozessen beschäftigt oder Politologen und Stadtplaner wortreich die Privatisierung des öffentlichen Raums beklagen, gelingt es den in Knechts Buch versammelten Autoren, die subjektive, alltagsprägende Dimension dieser Ausgrenzung sichtbar zu machen und erste Fragmente für einen anderen Berliner Stadtplan, den der Armut und Ausgrenzung zur Diskussion zu stellen.
Dabei erweist sich die als subjektiv gescholtene Methodik der Ethnologie als forscherischer Standortvorteil. Welche andere Methode etwa als die der „teilnehmenden Beobachtung“, einer Beschreibung, ohne zugleich zu bewerten, wäre sonst imstande, Marios soziale Technik, sich im öffentlichen Raum der Stadt weitgehend unsichtbar zu machen, zu beschreiben? Mit ihrem Forschungsansatz tragen die der volkskundlichen (und von den Nazis missbrauchten) Tradition der europäischen Ethnologie folgenden Autoren jedenfalls weitaus mehr zum Verständnis der sozialen und räumlichen Dynamik des „neuen Berlin“ bei als etwa die gutachterliche Arbeit der verbeamteten Stadtsoziologen. Erinnert sei dabei nur an vergangene Forschungsprojekte, bei denen etwa am Beispiel eines Hauses in der Schillerpromenade die sich auflösenden Netzwerke eines sozialen Mikrokosmos beschrieben werden oder die vielfältigen Beziehungsgeflechte zwischen den beiden Nachbarbezirken Treptow und Neukölln untersucht wurden.
Gleichwohl bewegt sich Michi Knechts Buch nicht im theoriefreien Raum. Zum einen changieren die einzelnen Beiträge selbst immer wieder zwischen bloßer Beobachtung und anschließender Reflexion. Zum andern ist es der Herausgeberin ein wichtiges Anliegen, der eigenen Disziplin die alten Zöpfe abzuschneiden. Dazu gehört für sie vor allem eine Absage an die von Oscar Lewis begründete Theorie der „Kultur der Armut“. Diese, so Michi Knecht, habe im Grunde nur dazu geführt, „dass Ethnologinnen und Ethnologen vor den ethischen, politischen und theroretischen Problemen zurückschrecken, die mit der Erforschung von Armut vor der eigenen Haustür verbunden sein können.“ Stattdessen plädiert Knecht, in ihrer Suche nach einer alternativen Begrifflichkeit noch etwas holprig, für eine „Ethnologie der Ausgrenzung“. Gemeint ist, die Realitäten von Armut und Ausgrenzung zu beschreiben, ohne dabei wiederum selbst auszugrenzen.
Das gilt auch für den Wandel der Imbisskultur in der Hauptstadt. War es zu Zeiten des industriellen Berlin einmal erforderlich, den knapp bemessenen Pausen im Fabrikalltag ein „mobiles Verfahren der Bewirtung“ entgegenzusetzen, stehen der Brücken-Imbiss in Pankow sowie Helga, Kalle und die anderen heute als Synonym für den „Überfluss“ an Zeit derer, die auch sonst „überflüssig“ sind.
Und sie stehen für jenen eng gewordenen Raum, in dem sich die Verlierer des neuen Berlin noch zeigen können, ohne Gefahr zu laufen, von den neuen Stadtbürgern, jenen, die heute andere Imbisse bevorzugen, des Platzes verwiesen zu werden. Michi Knecht (Hg.): „Die andere Seite der Stadt. Armut und Ausgrenzung in Berlin“. Böhlau-Verlag, 350 Seiten, 38 Mark
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