: Leben jenseits der japanischen Norm
Japans neue Gesetze für die Behindertenbetreung sind fast vorbildlich. Doch die anhaltende Wirtschaftskrise, gesellschaftliche Vorurteile und bürokratische Fehlplanungen behindern ihre Umsetzung ■ Aus Eda André Kunz
Den Schulsporttag vom Herbst 1973 kann Mutter Matsuoka nicht vergessen. Damals wurde ihr Sohn Hirokazu vor der versammelten Elternschaft einer 400-köpfigen Primarschule in der Mitte der Laufbahn zum Start aufgestellt. Die anderen Kinder protestierten: „Unfair, unfair!“ Hirokazu lief dennoch als letzter ins Ziel, weil er sich mit seiner leichten körperlichen und mentalen Behinderung gar nicht mit den anderen Kindern messen konnte. „Es war so beschämend, ich hätte mich am liebsten in der Erde verkrochen“, erinnert sich Mutter Matsuoka. 26 Jahre später läuft Hirokazu am Sporttag des Behindertenzentrums Tampopo seinen Mitläufern davon. Diesmal feuert die Mutter ihn lautstark an und freut sich, als ihr Sohn mit siegeserhobenen Armen ins Ziel läuft. Die unschöne Erinnerung ist für einen Moment verdrängt. „Hier lebt mein Sohn auf, weil er als Persönlichkeit geachtet und gefördert wird“, sagt Matsuoka.
Eine Pionierrolle in der Betreuung geistig Behinderter spielte Magoji Koita. Er baute das Behindertenzentrum Tampopo in Eda, einer kleinen Gebirgsstadt in der zentraljapanischen Präfektur Gifu, auft. Die Anfänge des Zentrums mit heute 160 Behinderten reichen bis 1971 zurück, als Koita in einer Baracke seinen behinderten Sohn zu unterrichten begann. Er war nach sechs Jahren aus der Schule ausgeschieden, weil es in Eda für ihn keine weitere Bildungsmöglichkeit gab. „Damals galt in Japan noch das religiös begründete Vorurteil, dass die Geburt eines behinderten Kindes auf Sünden der Eltern in einem früheren Leben hindeutete“, erklärt Koita. Wer die Ausgrenzung der Familie verhindern wollte, versteckte das Kind im Haus. Das wollte Koita nicht und studierte europäische Modelle der Behindertenbetreuung.
Mit den Zuwendungen befreundeter Eltern wuchs Koitas Baracke zu einer privaten Behindertenschule. „Ein mental behinderter Mensch braucht neue Herausforderungen, um zu lernen. Das blieb bis heute mein Grundprinzip für die Betreuung“, erklärt Koita und führt zum Gruppenheim des Zentrums. Auffallend ist die breite Treppe mit 32 Stufen in den ersten Stock. „Diese Treppe ist symbolisch für meinen 30jährigen Kampf“, sagt Koita. Die BewohnerInnen müssen trotz Körperbehinderung die Treppe benutzen, um so täglich neu für den japanischen Alltag zu üben.
Das ist bitter nötig. Japans öffentliche Infrastruktur ist nicht behindertenfreundlich. In Tokio sind nur 43 von 235 U-Bahn-Stationen für Behinderte ausgerüstet. „Außerhalb der Hauptstadt ist die Situation noch viel schlimmer“, sagt Ryo Misawa von der Vereinigung für behinderte Menschen. Für die insgesamt 5,5 Millionen Behinderten bleiben viele öffentliche Aktivitäten unzugänglich.
Das Tampopo-Zentrum wurde Anfang der 90er-Jahre vom Gesundheitsministerium in Tokio als Modell anerkannt. Heute gibt es landesweit 983 spezielle Schulen für 87.000 behinderte Kinder. Japan übernahm 1996 das skandinavische Modell. Seitdem werden Heime gebaut, in denen Behinderte in Wohngemeinschaften zusammenleben, in nahen Werkstätten arbeiten und von geschultem Personal betreut werden. Doch die guten Gesetze werden nicht angewendet. Denn die Bestimmungen traten genau dann in Kraft, als Japan in die schwerste Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg schlitterte. Steuerausfälle zwingen die Kommunen zum Sparen, Pläne für Behindertenwohnheime landeten in der Schublade. Zwar zielt die Zentralregierung mit ihren Konjunkturpaketen auch auf den Ausbau von Pflegeheimen. Doch wegen der wachsenden Überalterung der Gesellschaft steht die Alterspflege im Vordergrund.
Die Behindertenbetreuung bleibt deshalb eine Angelegenheit der Familie. 90 Prozent aller Behinderten leben zu Hause. Hirokazu Matsuokas Eltern sind inzwischen über 65 Jahre alt. Mutter Matsuoka möchte nicht an den Tag denken, an dem sie selbst Pflege benötigt. „Inzwischen leben über 800.000 Behinderte mit pensionierten Eltern zusammen“, erklärt Koita. Immer weniger Geschwister seien bereit, die Nachfolge der Eltern bei der Pflege eines behinderten Bruders oder einer behinderten Schwester anzutreten.
Zwar wurden fortschrittliche Arbeitsgesetze für Behinderte verabschiedet. Unternehmen mit mehr als 63 Angestellten müssen 1,8 Prozent, die öffentliche Verwaltung 2,1 Prozent der Stellen für Behinderte reservieren. Das Gesetz trat 1998 auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise in Kraft. Statt mehr Behinderte einzustellen, nahmen die Entlassungen zu. 1998 waren es mit 2.950 doppelt so viel wie 1996. Die Crux des Gesetzes liegt in den Anstellungsbedingungen. Nicht die großen Konzerne haben die Behinderten bisher beschäftigt, sondern 5.000 Kleinbetriebe mit bis zu 50 Angestellten.
Auch Hirokazu Matsuoka wurde im Oktober 1998 gefeuert. Die Keramikfirma behielt ihn zwar solange wie möglich. Als aber die Aufträge wegen der Asienkrise ausblieben, musste er als erster gehen. „Der Firmenchef ist unser Freund. Wir verstehen seine Entscheidung“, sagt Mutter Matsuoka. Hirokazu konnte es anfangs nicht verstehen, weil sein Tagesablauf aus den Fugen geriet. Die Betreuung zu Hause wurde zu solch einer Belastung, dass die Eltern in Tampopo um einen Tagesplatz für Hirokazu baten.
Über zehn solcher Anfragen erhält Koita pro Woche. Er kann nur Notfälle annehmen, weil sein Zentrum aus allen Nähten platzt. Eigentlich ist Tampopo für 120 Behinderte konzipiert. Davon leben 30 im Zentrum, 90 weitere arbeiten tagsüber in der Pilzzucht, der Tischlerei und den Gemüseplantagen. Nun wird diese Arbeit auf 130 verteilt, das Einkommen der Einzelnen sinkt.
Koita äußert sich trotz der Fortschritte kritisch über die Behindertenpolitik der Regierung: „Die Bedürfnisse der Behinderten müssen an der Basis bestimmt werden und nicht in einem fernen Büro der Zentralverwaltung.“ So habe das Gesundheitsministerium kürzlich den Bau von 100 Wohnheimen und das Arbeitsministerium zugleich die Förderung von Behindertenarbeitsplätzen beschlossen. Aber die Wohnheime werden an Orten gebaut, die keine Arbeitsplätze haben, während umgekehrt temporäre Arbeitsstellen geschaffen werden, die keine Sicherheiten bieten und teuer subventioniert werden müssen.
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