Kommentar
: Revolution auf Raten ■ Die EU-Grundrecht-Charta bleibt unverbindlich

Eigentlich hätte das Gremium, das heute in Brüssel mit der Ausarbeitung einer EU-Grundrecht-Charta beginnt, Konvent heißen sollen. Doch die Erinnerung an die 1792 in Frankreich einberufene Versammlung gleichen Namens war für EU-Mitgliedsstaaten wie England oder Dänemark völlig unakzeptabel. Immerhin hatten die Franzosen 1792 nicht nur eine neue Verfassung ausgearbeitet, sondern auch eine neue Staatsform proklamiert: die Republik. Die EU-Skeptiker wollten heute jedoch alles vermeiden, was die Union in die Nähe eines Staates mit eigener Verfassung rückt – und revolutionäre Fortschritte soll es erst recht nicht geben.

So heißt die Versammlung, die heute ihre Arbeit aufnimmt, ganz profan „Gremium zur Ausarbeitung des Entwurfs einer EU-Charta der Grundrechte“. So unspektakulär wie der Name ist auf den ersten Blick auch der Auftrag. Die Beteiligten sollen lediglich eine Erklärung „mit politischer Verbindlichkeit“ erarbeiten. Höflich ausgedrückt: Diese Charta wird rechtlich unverbindlich bleiben. Nicht nur für viele Integrationsbefürworter sind solche Halbheiten nur schwer zu akzeptieren – Grundrechte ohne Verbindlichkeit sind eigentlich ein Witz.

Doch bei Licht betrachtet ist der vermeintliche Skandal gar keiner. Auch ohne ausdrückliche Grundrecht-Charta ist die EU keine grundrechtsfreie Zone. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in den letzten Jahrzehnten ein System von europäischen Grundrechten entwickelt, das mit den nationalen Standards durchaus mithalten kann. Wenn die geplante Charta nun über das bisher Erreichte hinaus geht, kann der meist auf Bürgerfreundlichkeit bedachte EuGH dies einfach in seine Rechtsprechung integrieren.

Bleiben die Politiker jedoch hinter dem bereits Erreichten zurück, ist es auch nicht allzu schlimm. Denn maßgeblich bleibt das Luxemburger Richterrecht. Und wenn sich die Regierungen einige Jahre an diese Charta gewöhnt haben, dürfte sie durchaus noch Bestandteil verbindlicher europäischer Verträge werden. Die Bundesregierung spekuliert schon heute offen auf eine derartige Entwicklung.

Langfristig könnten die Verträge dann sogar zu einer echten EU-Verfassung führen – und die Revolution auf Raten zu besseren Ergebnissen führen als ein überstürzter Umsturz. Christian Rath

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