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Diese schöne, bösartige Intelligenz!

Kein Gott steht mehr bereit, am Ende die Guten zu belohnen: Die Theaterstücke des Christopher Marlowe beschreiben eine Welt, die von Machtkalkülen durchherrscht wird. Wolfgang Schlüter hat den Shakespeare-Zeitgenossen furios neu übersetzt ■ Von Christian Semler

Politisch gesehen endet dies Jahr im Winter unseres Missvergnügens. Und niemand zeigt sich, unsere Sorgen „in the deep bosom of the ocean“ zu begraben. Zu unserem Glück ist rechtzeitig Will Shakespeare aufgetaucht, uns beim Händchen zu nehmen und uns den Weg durch den Morast der Korruption, der Machinationen und Komplotte, der niedrigen politischen Leidenschaften zu weisen. Hollywood sei dank!

Im Tross seines Triumphzugs durchs deutsche Kino führt „Shakespeare in Love“ einen geheimnisvollen, auf den ersten Blick sympathischen, offenbar unglaublich begabten Kollegen mit sich, der leider im Film wie auch im Leben zu einem Zeitpunkt gewaltsam zu Tode kommt, als Shakespeares Stern erst aufgeht. So betritt der große elisabethanische Dramatiker Christopher Marlowe quasi durch die Hintertür die Bühne öffentlicher Aufmerksamkeit in Deutschland.

Gerade rechtzeitig zu diesem Ereignis hat Wolfgang Schlüter eine neue Übersetzung der Dramen Marlowes bei Eichborn erscheinen lassen, die uns durch ihren Erfindungsreichtum, ihren Witz, aber auch durch ihre Strenge und ihr Formbewusstsein gefangen nimmt.

Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als ob die Welt Marlowes sich uns gänzlich verschließe, uns nichts bliebe, als angesichts der nicht abreißenden Verskaskaden, angesichts der überbordenden, der Antike entlehnten Metaphernwelt mit dem Kritiker Alfred Kerr auszurufen: „Nur wer die Gähnsucht kennt, weiß, was ich leide.“ Doch merkwürdig. Beim Lesen erliegen wir zunehmend dem Sog der Marloweschen Rhetorik, der Prägnanz seiner Bilder, seiner bösartigen Intelligenz.

Plötzlich sehen wir uns in der dicht gedrängten Zuschauermenge des The Rose, Marlowes Theater. Und wir treffen nicht nur auf das elisabethanische Bildungsbürgertum, sondern jede Menge Londoner Pöbels, der – der lateinischen Sprache mit Sicherheit unkundig – dennoch genau weiß, dass hier die Sache aller verhandelt wird.

Das elisabethanische Theater ist der Diskursraum öffentlicher Angelegenheiten, wo Aufstieg und Fall der Mächtigen demonstriert wird, wo staatliche Autorität zerfällt und, wieder gefestigt, dennoch schwankend bleibt. Dieses Theater nimmt Teil an der Produktion des Weltgefühls.Von einem solchen kommunikativen Ort, von einem solchen Raum des Politischen kann heute keine Rede sein. Wohl aber vom Schrecken, vom nur zu vertrauten. Wie nahe ist uns Marlowes massenmörderische Welt am Ausgang des „Jahrhunderts der Barbarei“?

Nähern wir uns Marlowe auf den erforschten Pfaden der Biografie. Über Shakespeares Leben wissen wir wenig, über die Entstehungsgeschichte, die Editionen und die frühen Aufführungen seiner Dramen hingegen eine ganze Menge. Bei Christopher Marlowe verhält es sich umgekehrt. Bis in unsere Tage dauert der Streit an, ob Shakespeare wirklich Shakespeare war oder nicht vielmehr irgendein kunstsinniger Lord, der sich des Namens eines populären Schauspielers bediente. Marlowe hingegen ist eindeutig Marlowe. Nach Meinung einiger extravaganter Autoren soll er außerdem noch Shakespeare gewesen sein, welchen Namen er sich nach einem kunstvoll inszenierten Mordkomplott gegen seine eigene Person zugelegt habe. Solche Phantasmen machen sich an Marlowes nur 29-jähriger Lebensgeschichte fest. Denn der Dichter kannte nicht nur den Parnass lateinischer Poesie und Prosa. Er war auch heimisch in der unterirdischen Welt. Marlowe ist der berühmteste IM der Literaturgeschichte.

Er spionierte im Auftrag von Lord Thomas Walsingham, Sohn des gefürchteten Geheimdienstchefs Elisabeths, Francis Walsingham, die katholische Emigration in Reims aus, einem der Zentren der spanischen Subversion gegen England. Und Thomas Walsingham hielt auch lange die Hand über ihn, einschließlich einer vom Privy Council erwirkten barschen Anweisung an die Universität Cambridge, Marlowe nicht die Master-Würde vorzuenthalten. Die Profs hätten schließlich keine Ahnung, in welch wichtigen Staatsdingen ihr Studi seiner Alma Mater fern geblieben sei.

Auch Marlowes früher Tod hängt eng mit seinen Geheimdienst-Connections zusammen. Er starb keineswegs bei einer Messerstecherei im Wirtshaus, wie oft behauptet, sondern im Hinterzimmer einer renommierten Pension, inmitten seiner Geheimdienstkollegen. Ein vorsorglicher Mord, der den Dramatiker daran hindern sollte, im Rahmen eines gegen ihn anhängigen Verfahrens wegen Häresie seine Freunde vom anrüchigen „Club der Nacht“ zu belasten? Krimifreunde seien auf zahlreiche, sich widersprechende, aber gleich gut begründete einschlägige Werke verwiesen. Marlowes Nebenjob führt uns ins Zentrum seiner Dramenarbeit. Denn der Dichter verfügt nicht nur über subtile Kenntnisse, auf welche Weise jemand fast spurenlos zu Tode gebracht, wie eine ruinöse Intrige eingefädelt, wie psychologische Zersetzungsarbeit geleistet werden kann. Seine sechs Stücke zielen darüber hinaus auf die Beschreibung einer Welt, die von politischen Machtkalkülen durchherrscht wird. Und kein Gott steht mehr bereit, am Ende des Dramas die Guten zu belohnen und die Bösen in den Höllenpfuhl zu stoßen. Es waltet nicht die Versöhnung. Die verletzte Harmonie der göttlichen mit der menschlichen Sphäre, ideologisch verkörpert in der „Elizabethan world order“, sie wird nicht wiederhergestellt. Darin vor allem unterscheidet sich Marlowe von Shakespeare. Marlowes Tamburlaine, womit niemand anderes gemeint ist als Tamerlan, nach Hitler und Stalin der größte Massenmörder und Staatsterrorist der Geschichte, stirbt friedlich im Bett, seinen Ambitionen setzen nur Krankheit und Tod die letzte, biologische Grenze.

Marlowe ist ebenso wenig Zyniker wie Macchiavelli, dessen Werk er gründlich studiert hat und den er leibhaftig im Prolog des „Juden von Malta“ auftreten lässt. Aber sein Mitleid mit der geschundenen Kreatur, auf das der Übersetzer Wolfgang Schlüter in seinem instruktiven Nachwort hinweist, hält sich in engen Grenzen. Und das Beste, was sich über das Ende seiner Schurken sagen lässt, ist, dass sie nach dem Vorbild der Alten dem Verderben kalt ins Gesicht sehen. So Mortimer jr. in der Übertragung Schlüters von Edward II.: „Armselige Fortune, jetzt gewahr ich / an deinem Rad den Punkt, zu dem man strebt / und dann kopfüber abwärts taumelt; diesen Punkt / hab ich berührt – und da man höher nimmer klimmen kann: / was soll mein tiefer Sturz mich schmerzen?“

Marlowe will nichts beweisen, er will nur zeigen. Seinen Figuren fehlt die Entwicklung, die charakterliche Ambivalenz, er verfügt nicht über den Blick, den Shakespeare zum größten aller Psychologen macht (nicht Freud analysiert Shakespeare, sondern Shakespeare Freud, sagt Robert Bloom, der große Interpret). Marlowes gestischesVermögen ist dem Brechts verwandt, dem die einzig bedeutende Marlowe-Nachdichtung, „Leben Eduard II.“, zu danken ist. Während Shakespeare ein reiches Repertoire an Idiomen, Ausdrucksweisen, Versformen einsetzt, werden wir bei Marlowe mit der absoluten Herrschaft fünffüßiger Jamben, also des Blankverses, konfrontiert. Es war der junge Brecht, der bei der Nachdichtung sofort die Gefahr einer kalten Klassizität erkannte. Rückblickend schreibt er in „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“: „ Ich benötigte gehobene Sprache. Aber mir widerstand die ölige Glätte des üblichen fünffüßigen Jambus. Ich brauchte Rhythmus, aber nicht das übliche Klappern.“

In Wolfgang Schlüters Übersetzung gibt es im Versmaß weder eintöniges Klappern noch geschmiertes Summen. Schlüter ist hingerissen vom Sturzbach tausender Marlowescher Blankverse, ihrer Dichte, ihrer Stringenz. Er möchte keinen der Verse Marlowes in seiner Übersetzung missen. Und wie Brecht hat er ein Instrumentarium entwickelt, um den Blankvers aufzurauen. Hemmungslos setzt er sprachliche Atavismen neben modernen Alltagsjargon, ohne den Text Marlowes zur Exerzierwiese seiner Sprachkunststücke zu degradieren.

Die Übersetzung von „Edward the Second“ sei beispielhaft für Schlüters Übersetzungsarbeit herangezogen. Dort befiehlt der schurkische Mortimer, einen loyal gebliebenen Anhänger des gefangenen Königs abzuführen: „Take him away, he prates.“ Ganz brechtisch heißt es bei Schlüter: „Er plappert, räumt ihn ab.“ Alliterationen werden ingeniös nachgeahmt. Marlowes Edward II. bei der Lektüre einer Hinrichtungsliste aufständiger Lords: „What so, they bark’ed apace a month ago / Now, on my life, they’ll neither bark nor bite.“ Schlüter übersetzt: „Je nun, vor einem Monat bellten sie noch bellum – nun werden – auf mein Wort – sie weder belln noch beißen“. Schlüter nimmt leichthändig erfundene Atavismen in Dienst. Bei ihm nennt Mortimer den König abwechselnd „leichtgehirnt“ und „schwerköpficht“ und scheut nicht davor zurück, Mortimers triumphalen Monolog mit Szenejargon aufzupeppen. „Nun ist das Ding paletti; Mortimer & Queen / regiern das Reich, den König – und keiner wird uns dreinregiern / Die Feinde werd ich triezen und die Freunde fördern – befehln nach Gusto – ja, wer wagt da Widerstand.“

Eine solche Art der Übersetzungsarbeit verfängt sich da und dort fast zwangsläufig in Manierismen, fragwürdiger Aktualisierung oder einfach in platter Flapsigkeit auf Kosten des Autors. „Leg den Laptop beiseite, Faust“, gehört in letztere Kategorie, das (wienerische?) Jiddische des „Jid“ benannten Juden von Malta in erstere. Nur ungern denkt man daran, wie Theaterregisseure wie Frank Castorff und andere sich gerade auf die fragwürdigen Aspekte der Übersetzung stürzen werden. Aber keine Sorge. Marlowe in Schlüters Übersetzung wird nicht ihrer egomanischen Zerstörungswut zum Opfer fallen. Wir werden seine Dramen nur lesen und Lust & Entsetzen werden unsere Begleiter sein.

Christopher Marlowe: „Sämtliche Dramen“. Aus dem Englischen von Wolfgang Schlüter. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 539 Seiten, bis 1. 4. 2000 für 98 DM, danach 128 DM

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