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„Was nicht verboten ist, ist erlaubt“

Die EU-Kommission vollzieht eine Wende in der Wettbewerbspolitik und spart sich damit eine Menge Bürokratie. Dadurch werden Ressourcen für wichtige Kontrollaufgaben frei ■  Aus Brüssel Daniela Weingärtner

Auf Englisch, in der Verkehrssprache der EU-Kommission, klingt das Projekt so richtig hip: „A new generation of block exemption regulations.“ Diese „neue Generation von Gruppenfreistellungen“, die die EU-Kommission gestern absegnete, bedeutet eine großzügigere und weniger formalistische Anwendung der Wettbewerbsregeln: Grundsätzlich in Brüssel anmelde- und genehmigungspflichtig sind Vertriebsbindungen, Franchisingverträge und ähnliche Absprachen zwischen Groß- und Einzelhändlern künftig nur noch bei Unternehmen mit einem Marktanteil von mindestens dreißig Prozent. Die alte Richtlinie hatte eine nicht näher definierte „marktbeherrschende Stellung“ als Kriterium angegeben.

Die neue Regelung soll sowohl die kleineren Unternehmen als auch die EU-Bürokratie entlasten und der Kommission einen gezielteren Einsatz ihrer Ressourcen ermöglichen. Bislang beantragten viele Unternehmer, die gegen EU-Recht zu verstoßen fürchteten, vorsichtshalber bei allen möglichen Absprachen eine so genannte Gruppenfreistellung – die die Kommission dann prüfen musste.

Gestellt wurden die Weichen für diese Wende in der Brüsseler Wettbewerbspolitik noch in Karel van Mierts Denkfabrik. Die Lorbeeren kann nun sein Nachfolger Mario Monti einheimsen.

Die 30-Prozent-Schwelle ist ein Kompromiss, der im Ministerrat zustande kam. Deutschland und Frankreich hätten sie lieber bei 20 Prozent gesehen hätten, die anderen Länder bei 40 Prozent.

Die neue Regelung legt fest, wann Absprachen über Kauf oder Verkauf von Waren und Dienstleistungen in der vertikalen Handelskette erlaubt sind – also zwischen Produzenten und Großhändlern oder zwischen Groß- und Einzelhändlern. Erst im Juli hatte eine Razzia von EU-Ermittlern in Coca-Cola-Büros in Essen, Berlin, Kopenhagen und London für Unruhe an der Börse und bei den Softdrink-Herstellern gesorgt. Gesucht wurde nach Beweisen dafür, dass der Konzern seine marktbeherrschende Stellung gegenüber Groß- und Einzelhändlern ausgenützt haben könnte: Die Kartellwächter vermuteten, dass Coca-Cola Händlern Rabatte gewährt, wenn diese keine anderen Softdrinks führen oder die Konkurrenz ungünstig in den Regalen platzieren. Auch Treueprämien gelten als Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung.

Bislang waren die Ausnahmen von den Wettbewerbsregeln in drei Richtlinien festgehalten, die Ende dieses Jahres auslaufen. Nun wird der bisherige Grundsatz „Was nicht erlaubt ist, ist verboten“ in sein Gegenteil verkehrt: „Was nicht verboten ist, ist erlaubt.“ Die „new generation“ schreibt nicht mehr vor, wie Verträge zwischen Firmen und Händlern auszusehen haben, sondern welche Klauseln sie auf keinen Fall enthalten dürfen. Solche „hardcore restrictions“ also Vertragstabus, sind Preisbindungen, Mindestpreise oder Gebietsabsprachen wie die bei Coca-Cola vermuteten.

Der Automobilsektor soll vorerst von der Neuerung ausgenommen werden. Die Spielregeln für Automobilhersteller und Autohändler wurden erst 1995 neu gefasst. Sie sollen, wie ursprünglich vorgesehen, bis September 2002 in Kraft bleiben.

Fraglich bleibt, wie der Marktanteil im Einzelfall bestimmt werden soll. Bei Coca-Cola lässt er sich leicht aus dem Umsatz ermitteln: Die Firma kassiert jede zweite Mark, die in Europa für Softdrinks ausgegeben wird. Aber selten sind die Marktstrukturen so übersichtlich. Zudem will es die Kommission nicht bei dieser herstellerbezogenen Marktdefinition bewenden lassen. Sie will in Zukunft die gesamte Wettbewerbssituation im Blick haben – auch die Nachfragemacht.

Diese neue Definition von marktbeherrschender Stellung würde es möglich machen, auch Handelsketten wie Metro oder Aldi zu regulieren, die ihren Zulieferern mit Preisdiktaten die Luft abdrehen. Bislang hatte Brüssel keine Handhabe dagegen . Was passiert, wenn eine Branche sich nicht nach den EU-Wettbewerbsregeln richten muss, zeigt eine Studie, die der statistische Dienst der EU im November veröffentlichte. Sie trägt den Titel: „Handel in Europa – Tante-Emma-Läden werden von größeren Handelsunternehmen verdrängt“.

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