piwik no script img

Oh, wer oder was erlöst uns?

Tja. Ist Christus der Erlöser? Oder war es doch Marx? Linke wollen ja so gerne glauben, nur an was? An den Kapitalismus? Da gibt es keine Erlösung. An Marx? Schon eher, aber der Sozialismus wurde doch gerade abgeschafft. Und das Hauptproblem: Keiner erklärt einem, wie das nach der Erlösung eigentlich aussehen soll. Wer will da schon ins Himmelreich? Eine kurze Theologie der Weltreligionen, notiert von Günther Nenning

Weihnacht ist das Fest, wo man sich nicht besinnt. Denn wo kommt man da hin? Richtig, bleiben wir lieber besinnungslos. Längst haben wir die Besinnung verloren. Dass wir nur ja nicht zu uns kommen, darauf ist unsere post-post-postmoderne Weihnacht eingerichtet.

Oh, wer oder oh, was erlöst uns von diesem Leben?

Nein, es gibt keine Erlösung, außer die Erlösung. Der junge Friedrich Engels schrieb, und das war klüger als manches, was der erwachsene Engels schrieb: „Ich fühle es, ich werde nicht verloren gehen, ich werde zu Gott kommen, zu dem sich mein ganzes Herz sehnt“ (Gustav Mayer, Friedrich Engels I, 31).

Der Kommunismus war nur eine Zwischenstation. Jetzt sind wir bewusstlos wandelnde Gespenster. Unsere Erlösung ist unmöglich oder doch sehr schwierig. Der Wunderrabbi von Kosnitz kommt in Martin Bubers „Geschichten der Chassidim“ mit dem folgenden Satz vor: „Der Kosnitzer sprach zu Gott: Herr der Welt, ich bitte dich, du mögest Israel erlösen. Willst du aber nicht die Juden erlösen, so erlöse die Gojim.“

Das ist ein ungeheurer Satz. Wissend, wie heikel die Sache mit der Erlösung ist, schiebt der weise Rabbi das Problem hinüber zu den Christen. Und die haben auch nicht viel zusammengebracht. Geben wir’s auf? Aber das geht nicht. Wir sind unglücklich.

Angeblich ist uns jetzt schon alles egal. Aber das stimmt ja nicht. Wir seufzen. „Wir wissen, dass alle Kreatur seufzt und in Geburtswehen sich windet bis zum heutigen Tag“ (Paulus an die Römer 8,22).

Fest steht doch nur, dass der Kommunismus uns nicht erlöst hat. Alles andere ist offen. Die lateinische Sprache, in den Schulen zum Aussterben verurteilt, war sehr viel genauer als unser heutiger Quacksprech. Im Vaterunser heißt es: „... libera nos a malo“, „... befreie uns vom Bösen“.

Befreiung ist genauer als Erlösung, weniger reaktionär, linker. Mein Gott, uns Linken geht’s ohnehin so schlecht, dürfen wir uns nicht was Linkes suchen, wo es nur vorkommt?

Atheist Marx war ein besserer Theologe als viele heutige Theologen und gestrige Marxisten. Der Spross einer Rabbinerfamilie hat den Glauben an die Erlösung durch Gott (den die Christen von den Juden haben; die Christen sind eine jüdische Sekte) – nicht einfach weggeworfen, sondern aufgehoben. Der Marx’sche Atheismus ist eine Erlösungsreligion ohne Gott. Der Mensch ist sein eigener Erlöser, er gelangt ins Himmelreich der klassenlosen Gesellschaft.Der Mensch ist Gott: Der Marxismus verrät sich, er ist ein Kind der Theologie. Marx gibt jegliche Freiheit, einschließlich der freien Rückkehr zum Glauben.

Eine Theologie des Marxismus ist noch ausständig. Sie ist dringlich. Denn Marx ist ein toter Hund, der bald wieder bellen wird, gewiss noch im kommenden Millennium. Bei Marx gibt es eine theologische Begleitmusik, und in der Theologie sollte es eine Marx’sche Begleitmusik geben. Marx ist ein Maulwurf, der wacker weitergräbt. Marx ist der Theologe der Befreiung.

„Wo immer das Wort Freiheit auftaucht, wird es unklar“ (Gottfried Benn, „Stuttgarter Rede über das Altern“, 1954). Aber was macht das? Alles wirklich Wesentliche ist unklar, und alles wesentlich Unklare fasziniert.

Erlösung ist die Lösung unserer Ketten. Und die Menschen haben, spricht der alte Maulwurf, „nichts zu verlieren als ihre Ketten und eine Welt zu gewinnen“ („Kommunistisches Manifest“, 1848).

Befreiung ist die Ankunft im himmlischen Jerusalem. „Das himmlische Jerusalem aber ist frei, und dieses Jerusalem ist unsere Mutter“ (Paulus an die Galater 4, 24). Wir haben die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ (Paulus an die Römer 8, 21). Wir brauchen, spricht der alte Maulwurf, einen „Verein freier Menschen“ („Kapital“, I. Band, 1. Kap.), „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ („Kommunistisches Manifest“).

Marx war ein Trottel. Denn er meinte, der Mensch könne sich selbst befreien, als sein eigener Gott. Einen Schmarrn. Aber in fast allen anderen Punkten war er recht gut – ein geeigneter Führer ins nächste Millennium.

Die katholische Soziallehre ist weitgehend abgeschrieben von Karl Marx. Einer ihrer wesentlichen Begründer, der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning, hat dies auch ehrlich eingestanden. Er kam unter heftigen Beschuss durch seine eigene Kirche. Was er ebenso aushielt wie diverse Verfolgungen durch die Nazis. Er wurde 101 Jahre alt (gestorben 1991).

Pater Nell-Breuning, Begründer der Katholischen Soziallehre, wurde in derselben Stadt geboren wie Karl Marx und ging dort ins selbe Gymnasium wie dieser. Die Geschichte macht immer Witze.

Pater Nell-Breuning brachte das Kunststück fertig: er war sowohl Mitautor der päpstlichen Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ (1931) wie auch wesentlicher Ideengeber fürs Godesberger Programm der SPD (1959).

In schöner Erinnerung habe ich meine lebhafte Mitarbeit am Parteiprogramm der SPÖ, veranlasst durch Bruno Kreisky, dem Austro-Sonnenkönig, während seiner dreizehnjährigen Herrschaft als Bundeskanzler (1970-1983). Er hatte es eilig. In sechs Wochen sollte der Programmentwurf fertig sein.

Was tun, fragten wir uns?

Mit dem Mut der Verzweiflung gingen wir brave Sozis in die katholische Buchhandlung Herder und erstanden mehrere Exemplare eines Taschenbuches der katholischen Soziallehre. Wir verteilten sie unter uns. Alles war da drin schön geordnet nach Sachgebieten.

Kreisky befand sich auf Urlaub in Mallorca. Fax gab’s noch keines. Mit diplomatischem Kurier per Flugzeug gelangten unsere Entwurfstexte zu ihm. Wir wussten schon, wie’s weiterging. Er rief immer am Nachmittag gegen vier an und tobte.

„Ihr seid’s ja verrückt, das ist der nackte Kommunismus.“

„Nein, Bruno“, sagten wir, „das ist die katholische Soziallehre.“

„Das ist wurscht“, schrie er, „das ist alles zu radikal.“

Er hatte natürlich Recht. Dabei hatten wir ohnehin schon die katholische Soziallehre jeweils um fünfzig Prozent abgemildert. Dann ließen wir halt noch was weg, bis es passte. Es wurde ein gut sozialdemokratisches Programm.

An Erlösung glauben alle Religionen, insbesondere der Kommunismus, nur nicht der Kapitalismus. Der echte Kapitalismus ist ein Kamel, das nicht durchs Nadelöhr will. Er kommt nicht ins Himmelreich, sondern er verdient sich zu Tode. Natürlich kommen auch die Faschisten nicht ins Himmelreich. Kein Geringerer als Thomas Mann bescheinigt ihnen: „Der Nationalsozialismus war der gescheiterte Versuch, das Reich Gottes auf Erden zu errichten.“

Neulich diskutierte ich mit Angehörigen mehrerer und keiner Religion über das Thema „Gibt es ein Leben nach dem Tode?“. Der Saal war voll. Es ist ein aktuelles Thema. Bei diesem Leben, das wir führen, wächst naturgemäß die Sehnsucht nach einem anderen.

Die Diskussion war lebhaft. Gegen Mitternacht einigten wir uns: Wir kommen alle, alle in den Himmel. Auch die Kommunisten, sogar die Kapitalisten. Nur eine kleine Gruppe von Antifaschisten gab eine gesonderte Erklärung ab: „Wir glauben nicht an Gott, aber wir protestieren gegen die Aufnahme von Nazis ins Himmelreich.“

Von Jörg Mauthe, dem großen österreichischen Autor, gibt es die schöne Geschichte, wie er im Fernsehen gefragt wird, ob er an ein Leben nach dem Tode glaube. Er antwortet: „Eigentlich nicht, aber lachen tät’ ich.“

Es geht ums Lachen: Dieses Lachen, das wir anstimmen wollen, wenn wir wider Erwarten doch in den Himmel kommen. Das Himmelreich ist ja nicht die einzige Möglichkeit des Lebens nach dem Tode. Wir können auch in die Hölle kommen.

Ich halte es mit dem Kirchenlehrer Origenes (gestorben um 250). Er fand es unmöglich, dass ein Gott der Liebe ewige Höllenstrafen verhängt. Er lehrte die „Apokatastasis“, die „Wiederbringung aller“. Keiner bleibt in der Hölle, alle werden erlöst.

Kommunismus, Marxismus, Sozialismus aller Spielarten sind Mysterienkulte, deren Ziel die Erlösung der Menschheit ist. Eine verschlungene, aber erkennbare Linie läuft von den Erlösungsreligionen des Alten Orients, inklusive Christentum, zum Sozialismus und zur schon vorausdämmernden Rückbiegung des Sozialismus ins Christentum.

Doch kein Schwein sagt uns, was eigentlich nach der Erlösung passiert. Detaillierte Beschreibungen des Himmelreiches sind nicht erhältlich. Marx sagt ausdrücklich, er könne und wolle keine „Blaupause“ der klassenlosen Gesellschaft geben.

Den Sprung aus dem diesseitigen Reich der Notwendigkeit ins jenseitige Reich der Freiheit müssen wir Feiglinge wagen aufs Geratewohl. Wir brauchen ein durch nichts gerechtfertigtes, absurdes Grundvertrauen. Aus dem bösen Diesseits (des Kapitalismus) in das schöne Jenseits (des Sozialismus) – Herrgott noch einmal, warum getrauen wir uns nicht zu springen.

Gustav Landauer, der wunderbare Sozialist und Anarchist (das ist: Sozialist zum Quadrat) schrieb: „Nicht so ist es, dass wir heute unfrei, morgen aber durch irgendein blaues Wunder frei sind, sondern so: dass wir alle ohne jede Ausnahme die Freiheit in uns haben – und sie nur umsetzen müssen in die Wirklichkeit.“ Geschrieben 1913. Im Jahr drauf kam, anstatt der Freiheit, der Weltkrieg.

Kotzgrob spricht der heilige Apostel Paulus von der Scheiße (wörtlich so, lateinisch: stercora, griech. skybala, Brief an die Philipper 3,8) – durch die wir durch müssen, um die Erlösung zu gewinnen. Das ist sehr realistisch gesehen.

Der Sozialismus ist eine Religion der Erlösung. Man muss zu ihm nur den unbegreiflichen Gott hinzutun, Jesus Christus und den heiligen Geist – mehr nicht – und wir haben echt alles, was wir brauchen. Was das heißt? Der gegenwärtige Pessimismus der Linken ist ganz unbegründet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen