Du sollst Vater und Mutter ehren
: Falscher Gehorsam

Eigentlich ist die Bezeichnung „Die Zehn Gebote“ falsch. Richtig müsste es heißen: „Die Acht Verbote und Zwei Gebote“. Denn nur das vierte und fünfte Gebot brechen mit der sonst immer gleichen „Du sollst nicht“-Formel: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird. Warum heißt es nicht „Du sollst deine Eltern nicht hassen“ oder „Du sollst sie nicht missachten“? Was ist härter: Seine Eltern nicht ehren oder sie hassen?

Man kann die Zehn Gebote auf zweierlei Art interpretieren. Erstens als Formulierung der Anfangsgründe des menschlichen Miteinanders. Als Abwehr des Vorzivilisatorischen: Ohne diese Regeln kann es keine gedeihliche Gemeinschaft geben. Oder aber als Gebote für Extremsituationen: Du magst bettelarm sein, aber du darfst nicht stehlen. Du magst toben vor Zorn, aber du darfst nicht töten. Bezogen auf das fünfte Gebot heißt das entweder: Ein Sozialwesen kann ohne Rücksicht auf die Eltern nicht gelingen. Oder es besagt: Und wenn die alten Herrschaften noch so ungenießbar sind, sie sind deine Eltern; werde nicht ihr Richter.

Die erste Interpretation kann als Aufbauhilfe verstanden werden: Die Erfahrung der Altvorderen erspart dir Fehlschläge; die Eltern zu ehren zeugt von Geschichtsbewusstsein. Wird Ehren mit Gehorchen gleichgesetzt, ist dies der Grundstein für patriarchale Gesellschaftsformen (ob Gehorsam auch zur Machtstruktur des Matriarchats gehört, ist eine andere offene Frage). Als bloße Unterordnungsformel jedenfalls hat das fünfte Gebot heute nur in der Erziehung noch gewisse Relevanz.

Die zweite Interpretation mag nach einer Aktualisierung im Geiste der Achtundsechziger klingen. Doch immerhin besagt die bloße Existenz des fünften Gebots zunächst nichts anderes als dies: Generationenkonflikte hat es schon immer gegeben. Sie sind eine anthropologische Konstante. Oder psychologisch gesprochen: Sie gehören zum Prozess der Individuation. Welch öde Welt, wenn Kinder immer so ausfielen wie von den Eltern gewünscht.

Nimmt man das Gebot, die Eltern zu ehren, als Konfliktformel, so birgt sie auch heute noch große Kraft. Schließlich besagt der reine Umstand, Vater oder Mutter zu sein, noch nicht, dass man es mit dem eigenen Kind ausschließlich gut meint. Es gibt Fälle symbiotischer Kindfixierung, die dem Nachwuchs die Luft abschnüren; auch Eltern können die Hölle auf Erden sein. Im Notfall hilft da nur ein radikaler Schnitt.

Eine international erfolgreiche Sportlerin etwa trennte sich vor einigen Jahren von ihrem tyrannischen Trainervater und gab der Presse sinngemäß zu Protokoll: Menschen, die einen zerstören wollen, kann man nicht ändern, die kann man nur verlassen. Aufgekündigter Gehorsam ist nicht automatisch Ausdruck mangelnder Ehrerbietung. Umgekehrt: Sich distanzieren zu können, ohne die Anerkennung aufzugeben, ist eine ethische Herausforderung.Reinhard Krause