: Die Hölle sind die anderen
Das Himmelreich winkte Christen und Christinnen immer als Belohnung für ein gottgefälliges irdisches Leben. Als Strafe drohte den Menschen allzeit die Verbannung in die ewige Hölle. Die Schriftsteller Thomas Mann und Jean-Paul Sartre haben im Angesicht von Auschwitz und braunem Hass auf ihre Weise versucht, das Rätsel der teuflischsten Strafe nach dem Leben zu lösen. Ein Essay zum Ende dieses grausamen Jahrhunderts von Volker Weidermann
Nein, von dieser Reise kamen bislang nur wenige wieder zurück. Es ist ein Abenteuer, das größte vielleicht, das sich denken lässt. Und der Werbeslogan „Wer durch die Hölle will, muss verteufelt gut fahren“, mit dem der Camel-Konzern in den Achtzigerjahren für seine Abenteuerrallye warb, gibt nur eine leise Ahnung dessen wieder, was den Menschen wirklich erwartet, wenn er hinabsteigt, in den Hades, den Orcus, den Tartaros – in die Hölle. Wo die Schattenwesen leiden in alle Ewigkeit.
Manche waren da. Halbgötter meist, Helden von großer Kühnheit oder unstillbarem Wissensdurst. Theseus etwa. Theseus war kühn, und er hatte Glück. Mehr als Peirithoos, mit dem er gemeinsam je eine Zeustochter zu erringen hoffte. Beim Versuch, die schöne Persephone aus der Unterwelt zu entführen, wuchsen sie auf Befehl Plutos an einem Felsen fest. Glücklicherweise befand sich damals auch Herakles gerade auf Unterweltsfahrt. Er rettete Theseus, indem er den Höllenhund Kerberos besiegte. Für sich erlangte er damit die Unsterblichkeit.
Die Hölle hat er aber nicht mehr besucht. Obwohl man dort unten meinte, ihn noch einmal gesehen zu haben. Denn einige hundert Jahre später kam erneut ein mutiger Kämpfer zu Besuch, der ebenso gewandet war wie damals Herakles. Es war aber Dionysos, wie uns Aristophanes in den „Fröschen“ (405 v. Chr.) berichtet, der sich, nur um Angst und Schrecken unter den Höllenwächtern zu verbreiten, nach Herakles’ Art gekleidet hatte. Dionysos war auf der Suche nach einem Theaterdichter für die verwaiste Bühne Athens. Und Dichter, da war er sicher, Dichter und alle anderen Arten von Künstlern, die besten zumal, die wird man in der Hölle finden.
Thomas Mann glaubte das auch. Jean-Paul Sartre eher nicht. Die beiden Schriftsteller begannen im Jahr 1943 mit der Niederschrift zweier höchst unterschiedlicher Höllenbücher, zweier Werke, die beide den Abstieg in die Unterwelt beschreiben. In Thomas Manns „Doktor Faustus“ ist es ein Künstler, der sich auf seine Höllenzeit vorbereitet, in Sartres „Geschlossene Gesellschaft“ sind es Durchschnittsmörder, denen der Durchbruch zum richtigen Leben auf Erden nicht gelang.
Es gibt eine unglaubliche Vielzahl von literarischen Höllenbesuchen, von Berichten über Abenteuerfahrten ins schwefelige Totenreich und Unterweltsfantasien in der Geschichte der Literatur. Die Faszination der schlimmsten aller möglichen Welten war immer groß. Am größten jedoch stets in schweren Krisenzeiten, wenn ein Ende der Welt, wie wir sie kannten, nahe schien. Thomas Mann und Jean-Paul Sartre haben, als der Zweite Weltkrieg auf seinem Höhepunkt angelangt war und die ersten Berichte über die deutschen Konzentrationslager zu dem alten Nobelpreisträger ins kalifonische Exil und zu dem jungen französischen Philosophen nach Paris drangen, über die Hölle geschrieben. Über eine Welt, wie sie in ihren Vorstellungen unerträglicher nicht sein könnte, über jenen „feurigen Pfuhl“, wie die Unterwelt in der Offenbarung des Johannes genannt wird.
Und das hieß 1943: über Deutschland. Thomas Mann stellte sich, im sonnigen Pacific Palisades unter Palmen sitzend, den deutschen Untergang als Höllenfahrt, als wagnersche Götterdämmerung vor: „Wir sind ein Volk von mächtig tragischer Seele“, so lässt er sein anderes Ich, den Erzähler Serenus Zeitblom, sagen, „und unsere Liebe gehört dem Schicksal, jedem Schicksal, wenn es nur eines ist, sei es auch der den Himmel mit Götterdämmerungsröte entzündende Untergang!“Und er kommt, der Untergang, kommt unausweichlich, „über Deutschland schlägt das Verderben zusammen, im Schutt unserer Städte hausen, von Leichen fett, die Ratten“. Deutschland wird „vom Teufel geholt“, ist Opfer einer „fatal inspirierten“ und das heißt teuflischen Politik geworden. Nun kommt das Jüngste Gericht, und Thomas Mann sieht, dass der ganze Weg, den Deutschland in seiner tausendjährigen Geschichte gegangen ist, irrig war, einer, der nun „ins Nichts, in die Verzweiflung, in einen Bankerott ohne Beispiel, in eine von donnernden Flammen umtanzte Höllenfahrt mündet“. Deutschland stürzt „von Dämonen umschlungen hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung“.
Deutschland und die Deutschen, vom Teufel gefesselt und schicksalhaft in die Tiefen der Hölle gerissen. Es schmeichelte Manns Landsleuten, dass sie ihr Geschick als ein dämonisch verhangenes Schicksal betrachten durften. „Der Teufel wies“, so hat das Klaus Harpprecht einmal genannt, „den Weg ins Freie, in eine metaphysische Erhöhung der Schuld“. Eine Schuld, die als Schicksal erscheint, mit unabwendbarer Konsequenz, ohne Widerstandsmöglichkeit, und somit auch nicht mehr als wirkliche Schuld.
Der Teufel war für Thomas Mann eine durchaus reale Möglichkeit. Seinem Biographen Peter de Mendelssohn hat er einmal en passant von einer merkwürdigen Begegnung berichtet, die er Ende des vorigen Jahrhunderts in Palestrina hatte. Dort habe er urplötzlich, „auf dem schwarzen Sofa sitzend“, einen Fremdling erblickt, von dem er sofort gewusst habe, dass er kein anderer als der Teufel sei. Mann führte mit ihm wohl ein kurzes Gespräch, das dann zur Vorlage diente für das große Teufelsgespräch, das das Zentrum des Faustus-Romans bildet und in dem sich der Tonsetzer Adrian Leverkühn dem Teufel verschreibt.
Leverkühn erhält vom Teufel, nach Vorbild der alten Faustussage, Wissen, Inspiration, geniale Zeit auf Erden. Nichts weniger als den Durchbruch zur scheinbar letzten noch möglichen Kompositionsform (der Zwölftechnik Arnold Schönbergs) flüstert ihm der Teufel ein. Und Leverkühn verspricht dem Versucher dafür sein „Leib, Seel, Fleisch, Blut und Gut in alle Ewigkeit“. Da der doch etwas verzagte Tonsetzer sich beim Teufel erkundigt, wie es sich in der Hölle leben lässt, erfahren auch wir einiges über das Innerste des Schattenreichs, wie Thomas Mann es sah.
Er hat später behauptet, er habe seine Hölle nach Augenzeugenberichten aus den Berliner Gestapokellern geschrieben. Es klingt aber eher nach klassischeren Vorbildern, etwa wenn er schreibt, dass es in der dortigen „Schalldichtigkeit recht laut, maßlos und bei weitem das Ohr überfüllend laut sein wird von Gilfen und Girren, Heulen, Stöhnen, Brüllen, Gurgeln, Kreischen, Zetern, Grießgramen, Betteln und Folterjubel, so dass keiner sein eigenes Singen vernehmen wird“. Dass den Insassen nur die Wahl gelassen wird „zwischen extremer Kälte und einer Glut, die den Granit zum Schmelzen bringen könnte“, und dass dort alles aufhört, „jede Gnade, jede Schonung, jede letzte Spur von Rücksicht“.
Die übelste Qual jedoch an diesem Ort, in den übrigens nur eine Elite der Schlechtigkeit eingelassen wird („wir litten längst Raummangel, wenn Hinz und Kunz hineinkämen“) scheinen jedoch die anderen Höllenbewohner zu sein. Denn auch wenn sie „ihre Zungen fressen vor Schmerzen“, sind sie „untereinander voller Hohn und Verachtung und rufen einander beim Trillern und Ächzen die schmutzigsten Schimpfworte zu“. Die Hölle, das war für Thomas Mann ein schicksalhafter Ort, Treffpunkt selbstsüchtiger Künstler, die das ewige Leben der Inspiration, dem genialen Schaffen, ihrem Werk geopfert haben, und die ihren Kollegen für alle Ewigkeit das Unterweltendasein, zusätzlich zu allen Qualen, erst richtig zur Hölle machen.
Ja, zur Hölle. Mit Gerede, mit Beurteilungen, mit Schweigen, mit hässlichen Empiremöbeln, einer Bronzestatue und grenzenlosem Leiden zu dritt: Die Hölle, wie Jean-Paul Sartre sie sich zur selben Zeit im besetzten Paris dachte, weist doch einige Ähnlichkeiten mit Thomas Manns Künstlerhölle auf. „Die Hölle, das sind die anderen“, Leitsatz dieses Stücks, wurde einer der gebetsartig wiederholten Modesätze der Existenzialismusbewegung nach dem Kriege, und er formulierte das moralische Programm des jungen Philosophen, der kurz zuvor mit den „Fliegen“ sein erstes Erfolgsstück und ein Widerstandswerk gegen die deutschen Besatzer auf die Bühne gebracht hatte.In Sartres Hölle sitzt man bequem. Auf bunten Empiresofas. Und die Neuankömmlinge fragen gerne „Wo sind die Pfähle?“ Woraufhin der Höllenwärter und Kellner nur höflich lächelt und auf den Komfort des Hauses verweist. Er weiß: Die drei Höllenbewohner sind sich selbst Pfähle genug. Sie sind des anderen Folterknecht, auch wenn sie es nicht wollen. Denn sie sind bis in alle Ewigkeit ihren Mitbewohnern ausgeliefert, und das heißt vor allem: ihren Meinungen über einander, ihrem Urteil. Ein tägliches Scharfgericht, das über das Handeln, das Reden, das Aussehen des Anderen urteilt, ohne Ausweg für die permanent Verurteilten, ohne Entkommen.
Auch eine Verabredung der drei Höllenbewohner Ines, Estelle und Garcin zum Schweigen hilft da nicht. Das Schweigen „brüllt ihnen in den Ohren“. Aber es ist natürlich die eingebildete Meinung des anderen im eigenen Kopf, die da brüllt und brüllt. Sartres Höllen-WG ist ein Folterkeller der schwachen Menschen, die schon „auf der Welt in der Hölle sind, weil sie zu sehr vom Urteil anderer abhängen“. Und die über sich selbst Urteile haben, unter denen sie leiden, die sie aber nicht einmal zu ändern versuchen.
Doch, schreibt Sartre in seinem engagierten Nachwort an seine Landsleute: Ich möchte sagen, „dass diese Leute nicht wie wir sind“, denn wir sind lebendig und diese Leute sind tot. Es ist „ein lebendiges Totsein, wenn man von der ständigen Sorge um Urteile und Handlungen umgeben ist, die man nicht verändern will“. Die Menschen, die sich davon nicht befreien, „begeben sich aus freien Stücken in die Hölle“.
Das war die Hölle 1943: Während Thomas Mann seinen Künstler in eine Hölle sandte, wie sie sich einst Hieronymus Bosch vorgestellt hatte, und Deutschland den Höllengang prophezeite, rief der junge Philosoph in Frankreich seine Landsleute auf, ihre Hölle zu verlassen. Und die Welt nach diesem Höllenzwischenspiel ganz neu zu gestalten.
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