: Der Tiger mit dem Goldfuß
DIE SPIELER DES JAHRHUNDERTS. FOLGE 7: Die 20ER-JAHRE – Artur Friedenreich durchbrach die Rassenschranken in Brasiliens Fußball und ist als Torjäger unerreicht ■ Von Matti Lieske
Viele Jahrhundert-Fußballer sind schon gekürt worden. Aber alle Juroren übersahen immer das Problem mit den Äpfeln und Birnen: Wer will ernsthaft Paul Janes mit Rivelino vergleichen, welcher Maßstab soll für Frantisek Planicka und Bodo Illgner gleichermaßen gelten oder für Fritz Förderer und Josef Masopust? taz-AutorInnen bewerten Spieler in ihrem Umfeld und in ihrer Zeit. Streng objektiv, versteht sich, mit subjektiver Auswahl. Unsere Serie wird alle 10 Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts einzeln abdecken.
Wer kann sich messen mit José Leandro Andrade, jenem schwarzen Fußballer aus Uruguay, der Europas Fußballanhänger mit seinem gewandten und durchtriebenen Spiel verblüffte, als er sein Team 1924 in Antwerpen und 1928 in Paris zum Olympiasieg führte? Der dann die Pariser Bohème in den Nachtklubs mit seinem Charme und seiner Musikalität entzückte, bevor er sich 1930 wieder in die Heimat aufmachte, wo er in Montevideo half, seinem Land den ersten aller Weltmeistertitel zu schenken? Jener Andrade, der eine Karnevalsband mit dem Namen „Die armen Neger Kubas“ anführte und der den Europäern weis machte, die Uruguayer würden ihre Dribblings trainieren, indem sie im Zickzack flüchtenden Hühnern nachjagten? So fasziniert war die Sportpresse des alten Kontinents, wo nur die englische Kick-and-Rush-Variante des Fußballs gepflegt wurde, von der nie zuvor gesehenen Art und Weise des Spiels, das die Südamerikaner vorführten, von ihren Finten, Dribblings, Kombinationen und nicht zuletzt versteckten Fouls, dass sie sogar die Hühnerstory glaubten.
Wer also kann José Leandro Andrade, den erfolgreichsten Fußballer seiner Generation, übertreffen? Nur einer: Artur Friedenreich aus Sao Paulo. 1892 geboren, spielte er mit 17 bereits in der ersten brasilianischen Liga und blieb dort bis zu seinem 43. Lebensjahr. 1.329 von der Fifa anerkannte Tore schoss er in dieser Zeit, mehr als bis heute jeder andere Fußballer auf der Welt. Doch Artur Friedenreich war nicht nur Torjäger, er war auch Innovator. Die Erfindung der Körpertäuschung wird ihm ebenso zugeschrieben wie die des Effetschusses – Varianten, von denen die Uruguayer später so ausgiebig profitierten.
Vor allem aber war es Friedenreichs Verdienst, erstmals die Rassenschranken im brasilianischen Fußball durchbrochen zu haben, der bis dahin allein eine Sache der weißen Ober- und Mittelschicht war. Friedenreich gelang dieses Kunststück nicht nur wegen seiner phänomenalen Fähigkeiten auf dem Platz, sondern auch, weil er als Sohn eines deutschen Kaufmanns und einer afrobrasilianischen Wäscherin eine sehr helle Haut hatte. Seine grünen Augen kontrastierten mit dem gekräuselten Haar, das er vor jedem Spiel mit einer Unmenge Pomade an den Kopf klatschte.
„Artur mit dem goldenen Fuß“, war ein geläufiger Spitzname, den Friedenreich schon von seinem Vater erhalten hatte, die Uruguayer nannten ihn ehrfürchtig „El Tigre“. Sie hatten allen Grund dazu, war es doch Artur Friedenreich, der ihnen im Finale der Südamerikameisterschaft 1919 den Titel weggeschnappt hatte. Im schmucken Stadion Laranjeiras von Rio de Janeiro, wo heute noch der Klub Fluminense seine Spiele austrägt, erzielte Friedenreich vor 28.000 Zuschauern im Finale gegen Uruguay nach 150 Minuten Spielzeit den Treffer zum 1:0-Sieg. Es war der erste internationale Titel für Brasilien, und der Torschütze wurde zum Volkshelden. Seinen Schuh trug man einer Prozession begeisterter Fußballanhänger voran, und später wurde das gute Stück im Schaufenster eines Juweliergeschäftes ausgestellt. Die gewonnene Copa America trug maßgeblich dazu bei, Cricket und Rudern in Brasilien als populärste Sportarten zu verdrängen, doch bedeutete sie nicht das Ende aller Diskriminierung für Artur Friedenreich.
Danach verfügte Staatspräsident Pessoa, dass nur weiße Spieler zur Südamerikameisterschaft fahren dürften, eine allein gegen Friedenreich gerichtete Maßnahme, da er der einzige dunkelhäutige Akteur im Kader war. Ohne den Torjäger gab es 1920 und 1921 jeweils Niederlagen gegen Uruguay, was die Verantwortlichen zur Besinnung brachte. 1922 stand der Mittelstürmer wieder in der Mannschaft, die prompt die zweite Copa für Brasilien holte. Es blieb der letzte internationale Titel für Friedenreich, der mit verschiedenen Vereinen siebenmal Meister des Bundesstaates Sao Paulo wurde, aber trotz seiner langen Karriere nur 22 Länderspiele bestritt, in denen ihm zehn Tore gelangen. Auch bei der Weltmeisterschaft 1930 im Nachbarland Uruguay fehlte sein Name im Aufgebot, Brasilien schied durch eine unglückliche 1:2-Niederlage gegen Jugoslawien bereits in der Vorrunde aus.
Doch Artur Friedenreichs Beispiel machte Schule in Brasilien, das erst 1888 – als letztes Land weltweit – offiziell die Sklaverei abgeschafft hatte. In den 20er-Jahren mussten sich die Fußballvereine zunehmend für schwarze Spieler öffnen, und auch das Publikum wurde vielfältiger. Beim gloriosen Copa-America-Triumph 1919 war der einzige Schwarze im Rund des Laranjeiras-Stadions kein anderer als Artur Friedenreich gewesen. Das Publikum bestand aus Angehörigen der weißen Oberschicht, die trotz der Hitze, wie es sich für Gentlemen gehörte, dunkle Wollanzüge trugen. Allein für diese denkwürdige Momentaufnahme aus der facettenreichen Historie des Fußballs gebührt dem Sohn der Wäscherin aus Sao Paulo der Titel des Spielers der 20er-Jahre, jener Dekade, in der er die Blüte seiner Karriere erlebte.
Als Artur Friedenreich, der nie Geld mit dem Fußball verdiente, seine Laufbahn beendete, schenkte ihm sein Klub zum Dank ein Haus in Sao Paulo, eine Brauerei stiftete ihm eine Pension. Am 30. November1969, im Alter von 77 Jahren, starb Friedenreich. Elf Tage vorher hatten im ganzen Land die Kirchenglocken geläutet, als Pelé mit einem Elfmeter gegen Vasco da Gama sein tausendstes Tor schoss. Am Ende konnte aber auch Brasiliens berühmtester Ballkünstler seinen frühen Vorläufer nicht übertreffen. Mit 1.279 Toren blieb Pelé deutlich hinter der Marke Friedenreichs zurück. Und viele, die ihn noch spielen sahen, schworen Stein und Bein, dass „Fried“, wie ihn seine Mitspieler nannten, auch der bessere Fußballspieler war.
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