Nebensachen aus Brüssel: Hundekot und Lichterketten: Was Europa von Belgien lernen kann
Es gibt erstaunlich viele Leute, die Belgien toll finden. Der Brüsseler Korrespondent des Nouvel Observateur, Didier Pavy, zum Beispiel hält die Belgier für die Trendsetter Europas. Seine These: Was Belgien in den letzten hundertfünfzig Jahren durchgemacht hat, haben die anderen europäischen Staaten noch vor sich. Wer die Verhältnisse im Lande der Frittenesser etwas genauer kennt, bereitet sich seelisch auf ein zweifelhaftes Vergnügen vor.
Schon der erste Eindruck hinter der Grenzmarkierung ist überwältigend: Strahlend erleuchtete Autobahnen, so weit das Auge reicht. Belgienfans schwärmen oft von den hellen Straßen. Belgienhasser halten sich genauso gern bei Äußerlichkeiten auf: Hundedreck ist für sie ein besonders verabscheuungswürdiges Merkmal des flämisch-wallonischen Flickenteppichs. Hundescheiße und Lichterketten also. Ein simples, aber treffendes Bild, denn tatsächlich liegen im heutigen Belgien Modernisierungswahn und Sehnsucht nach der guten alten Zeit ganz dicht beieinander. In der Welt der Eurokraten geht es ähnlich widersprüchlich zu. Futurologische Büropaläste wachsen im Europaviertel in den Himmel. Drinnen hämmern Angestellte im Zweifingersystem auf mechanische Schreibmaschinen ein. Passierscheinfotos werden mit museumsreifen Polaroid-Apparaten aufgenommen und von Hand auf Pappkärtchen geklebt. In einer Behörde, die Spielregeln für E-Commerce und elektronischen Fingerabdruck erarbeitet, liegen auf den Schreibtischen Dutzende von Stempeln wie in einer Amtsstube der Jahrhundertwende.
Belgien und die EU passen gut zusammen. Beide haben Strukturen staatlicher Ordnung entwickelt, die diffus und allgegenwärtig sind, aber doch leicht zu umgehen. Sieben Parlamente, sechs Regierungen, sechzehn politische Gruppen kämpfen um 7,3 Millionen Wählerstimmen. Gäbe es die Wahlpflicht nicht, das Land käme wohl über die durchschnittliche Beteiligung bei einer Europawahl nicht hinaus.
Der Staat interessiert sich für jede Lebensregung seiner Bürger genauso penetrant wie die EU-Bürokratie für den Krümmungswinkel der Banane. Es ist ein Volkssport, dem Staat ein Schnippchen zu schlagen. Immer häufiger schlägt das Räuber-und-Gendarm-Spiel ins Groteske um. Als Polizisten beim Kindermörder Dutroux klingelten und erfuhren, das seien keine Kinderschreie, bloß junge Katzen im Keller, zogen sie ab. Nach diesem Drama wollten sogar die Belgier mehr Staat und organisierten 1996 den „weißen Marsch“ mit 300.000 Teilnehmern.
Drei Jahre später war auch bei der EU das Maß voll. Im März diesen Jahres wurde die Santer-Kommission abgesetzt, weil sie nicht die Kraft hatte, ihr korruptestes Mitglied, die Französin Edith Cresson, zum Teufel zu jagen. Einen allzutiefen Schock haben diese Vorgänge bei den Repräsentanten der Staatsmacht nicht hinterlassen. Belgien hat inzwischen seinen Dioxinskandal. Bei der EU folgte dem Cresson-Skandal der Fall Bangemann.
Die EU-Institutionen, sagt der bereits zitierte Belgien-Fan Pavy, sind in Brüssel genau am richtigen Platz. Denn Europa kann von Belgien alles lernen, was es fürs nächste Jahrtausend braucht: Wie man hundertfünfzig Jahre unter einem Dach zusammenlebt, sprachlich sogar nebeneinander her lebt, ohne sich zu massakrieren. Wie man das Staatsdach als notwendigen Rahmen akzeptiert, seine Identität aber zunehmend in der Gemeinde, der Region, der Sprachgruppe findet.
Natürlich könnte Europa von Belgien vor allem eines lernen: Wie die Volksseele am Lächeln einer Prinzessin genesen kann. Vielleicht sollte der Ministerrat Mathilde zu wichtigen Anlässen ausleihen. Unter der Bedingung, dass sie ihren tapsigen Kronprinzen zu Hause lässt. Den pädophilen Priester, der bei ihrer Trauung den Chor dirigierte, darf sie auch nicht mitbringen. Denn einen solchen Skandal kann Europa im nächsten Jahrtausend nicht gebrauchen. Daniela Weingärtner
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