„Sie müssen lernen, nicht zu brüllen“

Mit einer einzigen Gesangsstunde zum Weltruhm: In dem Musical Mahalia im St. Pauli-Theater zeichnet Joan Orleans die Lebensgeschichte der Gospel-Legende Mahalia Jackson nach  ■ Von Philip Oltermann

Wenn das deutsche Publikum sich entscheidet, der Musik auf der Bühne etwas Nachdruck zu verleihen, klatscht es meistens. Die Betonung der ersten Note des notorischen Vier-Viertel-Taktes ist im europäischen Kulturkreis generell Resultat der durchaus gutgemeinten Entscheidung, sich mit dem Künstler auf der Bühne zu solidarisieren.

Dass der traditionelle Klatschrhythmus der Seele eines Songs oft eher Einhalt gebietet, als sie zu beflügeln, muss wohl eine der Erkenntnisse Mahalia Jacksons gewesen sein, als sie das erste Mal vor weißem Publikum auftrat: „Man muss immer erst den Rhythmus erfassen und kann ihn dann durch die Musik interpretieren. Das ist vielleicht der Grund, warum weiße Leute einfach nie richtig im Takt zu meiner Musik klatschen.“

„Meine Musik“ bezog sich hier durchaus nicht nur auf Mahalia Jacksons eigenen künstlerischen Stil, sondern auf ein eigenständiges musikalisches Genre, das auf scheinbar paradoxe Weise die Emanzipation der schwarzen Bevölkerung Amerikas symbolisierte und eine ethnische Vereinigung ansteuerte. Mahala „Mahalia“ Jackson war die erste Sängerin, die mit Spirituals und Gospels ein Millionenpublikum erreichte. Nach ihrem Tod 1972 verkörperte sie als „Queen of Gospel“ eine ganze musikalische Ära – nicht zuletzt auch wegen der politischen Bedeutung ihrer Musik im Kontext der schwarzen Freiheitsbewegung. Der Journalist und Co-Autor ihrer Autobiographie Movin' on up, Evan McLeod Wylie, fasst die Bedeutung Mahalias so: „Das Lebensproblem des 20. Jahrhunderts löst sie wie Alexander der Große das Gordische: Sie haut es einfach mittendurch.“

Überraschend dabei ist, dass sich Mahalia selbst nie wirklich als politische Künstlerin verstand. Sie war zwar eng mit Martin Luther King und dem Protestführer Reverend Ralph D. Abernathy befreundet, trat bei den Feierlichkeiten zur Ernennung von Präsident John F. Kennedy auf und demonstrierte beim Marsch auf Washington 1963 für Arbeit und Freiheit der Schwarzen, aber letztendlich war es ein rein religiöser Sinn für Gerechtigkeit, der ihrer mächtigen Stimme diese Energie verlieh. Sie ging nie weiter, als eine Anhängerin Kings zu sein, mit dem sie den Glauben an das Gute im Menschen teilte. „Nicht in den Worten, die sie sagt oder singt, liegt ihr Wesentliches“, so McLeod Wyle, „sondern im Gestus, mit dem sie ihre Musik vorträgt oder ein Gespräch führt.“ Obwohl sie Superstar-Status erlangte und nach ihrem Tod zur Legende reifte, war sie von ihrem Selbstverständnis her nie mehr als eine einfache Frau aus der schwarzen Bevölkerung Amerikas.

Mahalia wird am 26. Oktober 1912 als Mahala Jackson in New Orleans geboren. Das Umfeld, in dem sie aufwächst, ist bescheiden. Schon als kleines Mädchen zeigt Mahalia Jackson sich durchschlagskräftig und prügelt sich regelmäßig mit den italienischen Jungen aus ihrer Nachbarschaft. Nach dem Tod ihrer Mutter sind es vor allem zwei Menschen, die sie beeinflussen: Auf der einen Seite ihre streng religiöse Tante Duke, in deren Obhut sie lebt, und auf der anderen ihr Vetter Fred, der sich im Nachtleben von New Orleans auskennt und ihr die ersten Blues- und Jazzplatten vorspielt. Für die schwarzen Baptistengemeinden Lousianas ist die Kirche religiöses Zentrum und sozio-kultureller Angelpunkt gleichermaßen, und auch für Mahalia bleibt die Überschneidung von Religion und Entertainment nie ein Widerspruch. Nach ihrem Umzug nach Chicago schließt sie sich dort einem Kirchenchor an, aus dem die erste farbige Gospel-Gruppe der Stadt hervorgeht.

Nach ersten Erfolgen spielt Mahalia mit dem Gedanken, Gesangsunterricht zu nehmen. Die Reaktion ihres Lehrer offenbart jedoch ein ungeahntes Hindernis: „Sie müssen lernen, nicht zu brüllen“, sagt er. „Ihre Art zu singen, macht der schwarzen Rasse keine Ehre. Sie müssen diese Songs so singen, dass die Weißen sie verstehen können.“ Auch als die schwarzen Gospels und Spirituals in den schwarzen Gemeinden florieren, bleibt ihnen ein größere Öffentlichkeit durch die ästhetischen Kriterien der weißen Zuhörerschaft verwehrt.

Für Mahalia Jackson ist dies ihre letzte Gesangsstunde, dafür aber der erste Schritt zur eigenständigen Realisierung ihres Karrieretraums, der sich schließlich Anfang der 50er Jahre mit ausverkauften Konzertreisen in Amerika und Europa und einer unglaublichen Resonanz von sämtlichen Bevölkerungsschichten sowie Musikkritikern verwirklicht. Inspiration und Bestätigung findet sie weiterhin bei Gott und zitiert: „Ihr Völker alle, klatscht in die Hände, jauchzet Gott zu mit jubelndem Schall!“ Auf ihren Konzerten singt sie voller Inbrunst, mit geschlossenen Augen und nicht selten weinend. „Ich will mit (...) meinem ganzen Körper ausdrücken, was in mir ist. Ich sage: Lasst nicht zu, dass der Teufel dem Herrn den Beat stiehlt.“

Eine halbherzige Darbietung der Gospels war für Mahalia nicht möglich, ein beherrschtes Takteklatschen als Gegenreaktion nicht vorstellbar. Auch wenn den Zuhörern ihrer Vorstellungen mitunter der christliche Glaube abging, so fehlte doch nie die vollkommene Hingabe an die Musik: Konzerte endeten generell erst nach mehreren Zugaben unter Einsatz der Polizei. „Es soll nicht einfach Unterhaltung sein“ war der grundlegende Anspruch Mahalia Jacksons an ihre Kunst, und gegen die Art von „Pop-Gospel“, in der sich spirituelle Musik in Europa meistens präsentiert, verspürte sie eine Abneigung.

Die Lebensgeschichte der „Queen of Gospel“ in Form einer Spielart ebendieser „Unterhaltung“ darzustellen, als ein Musical, ist wohlgemerkt ein riskantes Unterfangen. Joan Orleans, Darstellerin der Mahalia im St. Pauli-Theater und Autorin des gleichnamigen Musicals, teilt mit der Sängerinnen-Ikone jedoch nicht nur die Hingabe an die Musik, sondern auch die Heimatstadt: Orleans wurde wie Jackson in New Orleans geboren und von der musikalischen Tradition der Stadt inspiriert. Von der erdrückenden Pompösität der Musical-Welt wissend, ist ihre Inszenierung auf ein einziges Bühnenbild reduziert und versucht auch sonst, die Stimmgewalt Jacksons in einem eher stillem Umfeld zur Geltung kommen zu lassen.

Und als ein weiteres gutes Omen darf wohl Mahalia Jacksons gutes Verhältnis zu dieser Stadt gelten: Als sie auf ihrer ersten Europatournee in Hamburg gastiert, verbringt sie hier nicht nur „einen der herrlichsten und geruhsamsten Tage, an die ich mich erinnern kann“ – mit großzügigem Kristalleinkauf, Zimtschnecken, Obstkuchen und Blick auf die Alster vom Hotel Atlantic aus –, sondern gibt auch ein überwaltigendes Konzert in der Musikhalle.

Premiere: Di, 4. Januar, 20 Uhr, St. Pauli-Theater, bis 30. Januar, tägl. außer Mo