Eurydikes starke Schwestern

Das Mainstream-Kino der 90er-Jahre endete in einem Abgesang sinnentleerter Männlichkeit. Dafür gibt das weibliche Subjekt Anlass zu neuer Hoffnung ■ Von Elisabeth Bronfen

An den Kinoheldinnen wird eine Realität durchgespielt, die eine neue Utopie erlaubt

Am Ende von Woody Allens „Celebrity“ sitzt sein von Kenneth Branagh gespieltes Alter Ego Lee im Kinosaal. Um ihn herum die Stars und Fans, die wie er gekommen sind, um einer Filmpremiere beizuwohnen. Erschüttert starrt der erfolglose Schriftsteller auf die Kinoleinwand, auf der in der Anfangsszene des ablaufenden Films ein Flugzeug das Wort „help“ am Himmel erscheinen lässt. Gerade hat er seine geschiedene Frau Robin wieder getroffen und an ihrem maßlosen Glück erkennen müssen, wie hoffnungslos unglücklich er selbst ist. Hatte er sich am Anfang des Films von ihr trennen wollen, weil er sich hemmungslos den Abenteuern des Lebens – den Frauen und der Kunst – hingeben wollte, muss er nun die Eitelkeit dieses Unterfangens einsehen. Wie sehr das Schicksal seinen Protagonisten eingeholt hat, macht Woody Allen an der Schlaufe sichtbar, die dieses letzte Filmbild an den Anfang seines eigenen Films zurückbindet.

Auch „Celebrity“ hatte mit dem Auftauchen der Buchstaben am Himmel begonnen. Lee war bei den Dreharbeiten dieser Szene anwesend gewesen. Doch während er damals, seiner männlichen Potenz sicher, der verheißungsvollen Botschaft keine Beachtung schenkte, muss er diese nun unweigerlich auf sich selbst beziehen. Seine Liebesgeschichten sind alle gescheitert, sein Vorhaben, den großen amerikanischen Roman des ausgehenden Jahrhunderts zu schreiben, auch. Stellvertretend für die Generation der 40-Jährigen gibt er sich entmutigt und entkräftet einer hilflosen Ratlosigkeit hin. Woody Allen ist nicht der Einzige, der auf die Krise des weißen bürgerlichen Mannes, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts besonders virulent geworden ist, reagiert, indem er die traurigen Folgen dieser Kränkung ausschmückt.

Am erschütterndsten ist dies Michel Houellebecq mit seinen „Elementarteilchen“ gelungen. Mit einer Frauenverachtung, die in der Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht, wird hier die Schuld für das bedingungslose Unglück der Männer nicht nur dem egoistischen Selbsterfüllungsdrang der Nachkriegsmütter zugeschrieben. Mehr noch, bei ihm dürfen – wie es seit dem Orpheus-Mythos die Tradition diktiert – die Geliebten der in ihrer Schöpfungskraft ermatteten Helden schön sterben, damit der Mann am Tod der Frau wieder erstarkt. Houellebecq verbietet uns selbst diesen schaurigen Trost. Er lässt seine erschlafften Männer am Tod der Frauen mit zu Grunde gehen und macht daran zudem seine distopische Programmatik fest: Am Ende des 20. Jahrhunderts bleibt uns als einziger Ausweg aus der Misere, in die der Humanismus und die Aufklärung die westliche Kultur gestürzt haben, die radikale Auslöschung des Menschen und dessen Ersetzung durch eine neue Spezies.

Aber soll es außer weiblichen Leichen als Auslöser für Kunst und dem Schwanengesang einer abdankenden männlichen Klasse wirklich keine anderen Bilder geben, mit denen wir den Zusammenbruch der Vormachtstellung des weißen bürgerlichen Mannes ästhetisch erörtern könnten? Bleiben uns wirklich nur Geschichten der Resignation, des Wahnsinns oder der Selbsttilgung? Oskar Negt meinte einmal, den Utopieverboten entsprächen die falschen Realitätsdefinitionen. Das scheint zumindest Woody Allen sich zu Herzen genommen zu haben. Denn das Unglück seines Helden wirkt gerade dadurch so brisant, dass parallel zu seinem Absturz der Aufstieg der von ihm betrogenen Frau gefeiert wird. Judy Davis verwandelt sich im Verlauf der Handlung von einer schlampigen Schullehrerin in einen strahlenden, erfolgreichen Fernsehstar. Robin weist auf die ironische Wandlung hin, die ihr Leben genommen hat, und erklärt dem erstaunten Lee, sie sei sich völlig bewusst, dass sie sich in genau jene Art Frau verwandelt habe, die sie früher immer hasste. Aber sie sei tatsächlich glücklicher.

Gerade weil sie nur zu gut weiß, dass ihr plötzliches Glück zufällig ist, kann sie auch so lustvoll mit ihrer neuen Identität spielen. Dass Woody Allen gerade seiner Heldin die zukunftsträchtigere Definition von Realität in den Mund legt, ist kein Zufall. Seit Lacan wissen wir: Die Frau gibt es nicht. Interessant an diesem Gemeinplatz ist nun weniger der Umstand, dass die Frau in unserer Kultur vom männlichen Blick geschaffen wird. Viel mehr: Sie wurde nie als universales Subjekt verstanden und konnte deshalb die kulturellen Gesetze, denen unsere Identitätskonzepte entspringen, als Illusion begreifen: als symbolische Fiktionen, die zwar notwendig, aber nicht allumfassend und ausschließlich sind und mit deren Regeln man demzufolge am besten spielerisch umgehen sollte.

Der Vormarsch der Frauen, der seit Anbruch der Moderne unsere Öffentlichkeit nachhaltig geprägt hat, zwingt uns, am Ende des Jahrtausends angelangt, einzusehen: Auch den Mann als universales Subjekt gibt es nicht. Er kann dabei von denjenigen lernen, die die Illusion ihrer gesellschaftlichen Definition immer schon als solche aufrecht erhalten haben. Das sind die Möglichkeiten, die sich aus dem Spiel der Illusion ergeben. So fallen einem bei der Hollywoodproduktion der 90er-Jahre immer wieder Heldinnen auf, deren Funktion darin besteht, die ihnen vorgeschriebene Position innerhalb ihrer Gemeinschaft auszuhandeln und dabei entweder eine Gegenstimme zum Abgesang einer sinnentleerten Männlichkeit oder eine ironische Distanz zur Verblendung ihrer Gegenspieler einzunehmen.

Wes Craven wählt in seiner Slasher-Komödie „Scream“ ganz bewusst Teenager und College-Studenten als Protagonisten. Doch es ist seine von Neve Campbell gespielte Heldin, die jene Umschrift der Realitätsdefinition unternimmt, die ein Prinzip Hoffnung erlaubt. Mit der Tatsache konfrontiert, dass sie ihrer Vergangenheit nicht entkommen kann, schafft sie sich dennoch innerhalb der vorgegebenen Parameter die Freiheit, den Ausgang ihrer Geschichte selbst zu entscheiden. Während ihr Geliebter, der sich als Mörder ihrer Mutter entpuppt, sie tödlich mit seiner Waffe bedroht und ihr das von ihm ausgedachte Mordszenario erklärt, antwortet sie: „Not in my script!“

Sie erkennt zwar, dass sie das Genre der Geschichte, die sie durchspielen muss, nicht ändern kann. Aus dem Horrorszenario kann keine Liebesgeschichte werden. Doch weil sie die ihr aufgezwungene Situation auch als Script begreift, kann sie ihre Rolle in ihrem Interesse umgestalten. Wes Craven lässt sie ihren Widersacher erschießen und zeigt uns damit einen Ausweg aus einer selbstgefälligen Hilflosigkeit. Die von ihm angebotene utopische Denkfigur lautet: Die Realität wird von den Charakteren selbst postuliert. Als notwendiges gesellschaftliches Script kann sie immer auch neu ausgehandelt werden.

Dass gerade die Frau auf der Seite des Gesetzes steht und mit ihrem vernünftigen Blick die verblendeten Halluzinationen ihres Gefährten ins richtige Licht zu rücken sucht, ist nicht neu. Seit der Romantik bevölkern nicht nur Hexen, Huren und Heilige unser Bildrepertoire, sondern auch Aufklärerinnen wie E. T. A. Hoffmanns Clara. Ihrem sinnesverwirrten Nathanael, der in dem Wetterglashändler Coppola die Rückkehr des schrecklichen Sandmanns aus dem Ammenmärchen wieder zu erkennen glaubt, hält sie entgegen: Die dunkle Macht, von der er sich ergriffen glaubt, gibt es zwar. Aber es liegt an uns, ob wir ihr nachgeben und sie somit zur Gestaltung bringen oder nicht. Nur der Glaube an die feindliche Gewalt kann sie tatsächlich feindlich machen. So fungiert die weibliche Geliebte immer wieder als Vexierspiegel und Korrektiv zugleich.

Nicht zufällig hatte Frederic Raphael für die Verfilmung von Schnitzlers „Traumnovelle“ den Titel „The Female Subject“ vorgeschlagen. Kubrick hat zwar dieses Angebot seines Drehbuchautors abgelehnt. Dennoch lebt „Eyes Wide Shut“ von der Doppeldeutigkeit des englischen Wortes subject, die in diesem Titel steckt. Die Frage danach, was die Frau für ihren Gatten bedeutet, ist das Thema in einer Geschichte, in der sich Alice auch als weibliches Subjekt gegen die Vorurteile ihres Mannes durchsetzt. Er will die Frau so definieren, dass sie sein Selbstbild bestätigt. Sie widersetzt sich wiederholt dieser Vereinnahmung und beschreibt ihm in schillernden Farben, wie wenig er ihr Begehren kennt. Mehrmals antwortet er auf das Geständnis ihrer ehebrecherischen Fantasien nicht. Stattdessen lässt er seine Gedanken wandern und sucht verzweifelt auf den nächtlichen Straßen New Yorks nach einem Liebesabenteuer, um sich an Alice zu rächen.

Wie Woody Allens Alter Ego bekommt auch er den Sex, den er sucht, nicht. Stattdessen findet Alice einen Weg, ihn aus seiner gefährlichen Selbstbezogenheit herauszulocken. Sie legt die Maske, die er als Tarnung bei der geheimen Orgie getragen hat, an seiner Stelle neben sich ins Bett und schläft ein. Sie zeigt ihm die Hohlheit seiner ungebrochenen männlichen Selbstsicherheit und zwingt ihn somit dazu, sie als gleichberechtigte Gesprächspartnerin anzuerkennen. Unter Tränen gesteht er ihr, was er ihr bislang verheimlicht hat. Erfolgreich hat Alice die Realität ihrer Ehe neu definiert, eine Basis für ein ehrlicheres Zusammensein geschaffen. Er befürchtet, dass mit dem Zusammenbruch seiner Idealvorstellung der Frau alles verloren gegangen ist, es sei denn, sie könne ihm versichern, sie sei für immer aufgewacht. Darauf antwortet sie mit der Hoffnung, die darin liegt, die Illusion ihrer wieder gewonnenen Identität als solche anzunehmen: Lass uns dankbar sein, dass wir alle erlebten und erträumten Abenteuer überstanden haben und jetzt zumindest aufgewacht sind. Das ist die Stimme Claras. Kubricks Held hört auf sie. Darin liegt seine utopische Geste.

Bleiben als Bilder nur weibliche Leichen und der Schwanengesang abdankender Männlichkeit?

Auch David Finchers Heldin Marla Singer dient als Korrektiv zum totalisierenden Männerbund, der in „Fight Club“ zelebriert wird. In das „Wir“, das sich die jungen Männer in den Kellerräumen erkämpfen, passt sie nicht. Deshalb ist ihre Widerrede auch so gefährlich. Indem sie darauf besteht, dass auch sie einen Anspruch darauf hat, die Realität zu definieren, die sie mit ihrem Geliebten teilt, zeigt sie dem Erzähler, dass ein Rückzug auf das universale männliche Subjekt nicht mehr möglich ist. Sie widersetzt sich seinemWunsch, sie gänzlich in seinen Fantasien aufgehen zu lassen. Nachdem ihm klar geworden ist, dass er im letzten Jahr zunehmend im Zustand der Verblendung gelebt hat, bittet er sie um Verzeihung. Die wahren Umstände seiner geistigen Umnachtung behält er aber für sich. Nur der Ausschluss der Frau lässt ihn an dem „Wir“ der im Fight Club zelebrierten männlichen Autonomie festhalten. Marla nimmt die Floskel nicht an. Ihre Antwort spiegelt die Hohlheit seiner Entschuldigungsversuche: „I’m sorry, you’re sorry, everybody’s sorry.“

Man könnte fast vermuten, David Fincher spiele auf jene Szene in „Celebrity“ an, als Lee seiner Geliebten, an dem Vormittag, an dem sie mit ihren gesamten Möbeln bei ihm einziehen möchte, erklärt, er hätte jemand anderen getroffen. Auch Bonnie nimmt dieses Geständnis für das, was es ist: Ausdruck eines gnadenlosen Egoismus, der deshalb so perfide ist, weil Selbstbeschuldigung eingesetzt wird, um verantwortungsloses Verhalten zu rechtfertigen. Ihn einen Psychoten nennend, fällt sie wie Alice auf die einzige Sprache zurück, der er nicht ausweichen kann: die sprechende Geste. Sie stiehlt ihm das, was ihm wirklich lieb ist – das Manuskript seines Romans –, springt auf eine Fähre und verstreut die Blätter auf dem Meer.

Bei Woody Allen werden die betrogenen Frauen zu erfolgreichen Autorinnen und Fernsehstars. Bei Wes Craven sind sie diejenigen, die ethisch handeln und die gültige Version der schrecklichen Ereignisse bestimmen und überliefern, bei Kubrick die hellsichtig analysierenden. David Finchers Marla erfährt am Ende ihrer nächtlichen Abenteuer den Zauber der Liebe. Eines ist ihnen jedoch allen gemein: An ihnen wird eine Realitätsdefinition durchgespielt, die das Versprechen der Utopie erlaubt. Es gibt den glücklichen Zufall, man muss sein Begehren nicht aufgeben, man kann eine fatale Situation zu seinen Gunsten umwenden. Mit diesen Geschichten, die zwar nur Illusionsspiele sind, die uns aber erlauben, mit den unlösbaren Widersprüchen unserer Welt sinnvoll zu leben, lässt sich vielleicht besser ins nächste Jahrtausend gehen als mit dem Chor der zynischen Männerstimmen, die ihre eigene Auslöschung besingen. Am Ende des zweiten Jahrtausends erweist sich die Randständigkeit der Frau als ihre wirkliche ethische Stärke. Sie muss sich dem Abgesang des Mannes nicht einfügen. Sie hatte an diesem todgeweihten Projekt nie teil.