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Kinder killen grünen Megastresser

■ Uni organisiert Anti-Stress-Training für Kinder zwischen acht und 13 Jahren, die über Schul- und Alltagsstress klagen

Die zwei Fünfen in Mathe waren einfach zu viel. Der Klassenlehrer griff zum Machtwort: „Wenn nicht bald was passiert, muss der Schulpsychologe her“, warnte er Mutter Anke Schöller (Name geändert). Tochter Tina hatte während der Mathearbeiten nur hektisch in ihrem Tornister gewühlt. Die alarmierte Mutter war schockiert und entschied: „So kann es nicht weitergehen. Jetzt muss endlich etwas passieren.“

Jetzt sitzt die aufgewühlte Frau in einem Kreis von Eltern, die Ähnliches erlebt haben. „Meine Tochter kann sich einfach nicht konzentrieren“, erzählt sie den anderen. Und davon, dass Tina die zwei Fünfen komplett ignoriert hatte. „Das hat mich eigentlich am meisten gestört: Dass ihr das alles so wurscht war“, erklärt sie wütend – und schiebt plötzlich ganz leise eine vorsichtige Frage hinterher: „Vielleicht bin ich es ja, die hier den eigentlichen Stress hat?“

Schweigen beim ersten Zusammentreffen von sieben Elternpaaren, die eigentlich ihre Kinder angemeldet hatten – zum Anti-Stress-Training. Die Bremer Universität – Abteilung Klinische Psychologie – bietet diese Kurse für 8- bis 13-jährige Kids mit Schul- und Alltagsstress an. Untersuchungen zu Stress im Kindesalter hatten die Forscher „alarmiert“, berichtet Anti-Stress-Trainerin und Diplom-Psychologin Dr. Petra Hampel. „Und gezeigt: Es muss dringend etwas getan werden.“

Fast 35 Prozent aller Dritt- und Viertklässler klagen mittlerweile wegen Stress über „häufige Schlafschwierigkeiten“, ergab zum Beispiel eine Studie von dem Sozialwissenschaftler Wilfried Hurrelmann. Allein 17 Prozent berichteten über Kopfschmerzen, elf Prozent über Bauchschmerzen – und zehn haben „keinen Appetit“.

„Beanspruchungssymptome“ nennen die Wissenschaftler so etwas – ausgelöst durch verschiedene Faktoren. „Der schulische Leistungsdruck hat enorm zugenommen“, sagt Diplom-Psychologin Hampel. Schon bei Erstklässlern würden „gute Noten verlangt“, erfuhr sie bei Elternabenden in Bremer Grundschulen zum Thema Stress in Kinderjahren. „Die Misere auf dem Arbeitsmarkt hat sich offenbar schon auf die Grundschule übertragen“, schlussfolgert die Diplom-Psychologin. „Die meisten Eltern denken: „Ohne Gymnasium hat mein Kind sowieso keine Chance.“

„Megastresser“ heißt deshalb das grüne Männchen, das spielerisch vor einer schweren Mathearbeit in einer fliegenden Untertasse vorbeirast – und signalisiert: Hier kommt ein möglicher Stressfaktor. Das Männchen hat im Anti-Stress-Training seinen festen Platz. Denn das Training ist als Stress-Grundkurs gedacht – weil Kinder zwar Stress haben, aber ihn gar nicht erkennen: Sie müssen erst lernen, stressige Situationen aufzuspüren. Um dann zu lernen, wie sie sie eigentlich vermeiden.

Und da kommt dann als erstes der Mega-Stresser-Wunsch in Form eines schlaffen Hundes daher, zum Beispiel „der Schnellste im Sport oder die Klassenbeste“ zu sein und zu denken: „Das schaffe ich sowieso nicht.“ Aber dann liegt da schon der Pinguin als „Stresskiller“ im Liegestuhl und sagt: „Ich mache erstmal Pause oder einen Plan, wie ich die Situation lösen kann“ – bis am Ende ein Nilpferd fröhlich ins Wasser platscht: Die Kids sind bei der „Happy-Hippo-Laune“ („Ich fühle, wie die Angst verfliegt“) angelangt.

Rollenspiele gibt's dafür, Pantomime – Extra-Entspannungscassetten für Zuhause und progressive Muskelentspannung. Und zwischendurch Hausaufgaben. Und zum Schluss eine Urkunde, dass die Kinder auch wirklich alles mitgemacht haben. Verfestigen soll das die Lernschritte, die die Kids in den vier bis sechs Trainings-Sitzungen gemacht haben. Nach knapp sechs Monaten gibt es ein Auffrischungs-Training. Doch da kommt „nur noch die Hälfte. Der Rest sagt: Das Problem hätte sich erledigt.“

Grund für den Erfolg sehen die Bremer Wissenschaftler in dem verfestigten Verhaltenstraining: „Die Kinder lernten: Ich kann das in den Griff kriegen.“ Das Training half sogar bei schwereren Konflikten – bei Trennungs- oder Erziehungsstress. Nur knapp 20 Prozent der Kinder wurden weiterverwiesen – zum Beispiel an Psychotherapeuten in der Kinderambulanz der Universität, die auf Leistungsstörungen bei Rechnen oder Schreiben spezialisiert sind.

Ganz am Anfang aber, sagt Diplom-Psychologin Petra Hampel, stehe die elterliche Einsicht – dass zum Beispiel das ein oder andere Engagement der Kleinsten auch übertrieben ist: „Da wird intensiv eine Sportart und dann noch ein Instrument betrieben“, sagt sie. Und deshalb um jeden Termin gefeilscht: „Die Kalender der Eltern sind genauso voll wie die der Kinder.“ Dazwischen gequetscht bleibt dann kaum Zeit für die helfenden Anti-Stress-Training-Termine. kat

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