: „Hier gibt es tausend Milosevic’“
Der Russlandexperte Andrej Piontkowsky über Machtstrategien des Kreml, die Rolle der Militärs, die Auswirkungen des Tschetschenienkrieges und dessen mögliche Lösung sowie die Gefahr eines neu entfachten russischen Nationalismus
taz: Ist Tschetschenien zu besiegen? Oder könnte es ein neues Afghanistan werden?
Andrej Piontkowsky: Anders als Afghanistan liegt Tschetschenien auf russischem Staatsgebiet – insofern ist der jetzige Konflikt eher ein Bürgerkrieg. Der Krieg dauert vielleicht noch drei oder vier Monate an. Dann wird es neues Blutvergießen und neue Opfer geben. Jeden Abend verkünden russische Politiker und Generäle im Fernsehen: Wir müssen bis zum Ende durchhalten, wir lassen uns diesen Sieg nicht nehmen. Die Frage ist jedoch: Wie soll ein solches Ende aussehen und was bedeutet das Wort „Ende“? Man kann die russische Flagge in einem zerstörten Dorf hissen; aber nachts ist das Gelände nicht kontrollierbar. Tschetschenien kann militärisch nicht dauerhaft besiegt werden. Ökonomisch ist es eine schwere Belastung, und moralisch geraten die Russen, je länger der Konflikt andauert, immer mehr unter Druck.
Droht der Welt die Gefahr eines erwachenden russischen Nationalismus?
Eine solche Gefahr sehe ich nicht. Viele fragen sich: Warum gab es auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien furchtbare ethnische Kriege, während es im Vielvölkerstaat Russland bisher relativ ruhig geblieben ist. Das liegt nicht an der Qualität unseres Führungspersonals. In Russland gibt es tausend Milošević’. Und wenn Sie wollen, können Sie auch Boris Jelzin als eine Art Milošević sehen. Der große Unterschied zwischen Serben und Russen liegt in der Mentalität. Milošević konnte seine Kriege nur führen, weil 80 Prozent der serbischen Bevölkerung hinter ihm stand. Das russische Volk ist weit entfernt von nationalistischem und chauvinistischem Denken. Der Militärputsch 1991 scheiterte auch am mangelnden Rückhalt der Bevölkerung, obwohl die Aufständischen damals das große Sowjetimperium wiederherstellen wollten. In den baltischen Staaten gab es ebenfalls 1991 ein Referendum zur Unabhängigkeit. In Litauen leben fast 50 Prozent Russen. Dennoch stimmte dort eine große Mehrheit für die Unabhängigkeit Litauens. Das beweist, dass es den Russen nicht um Nationalismus geht.
Welche Gefahren erwachsen aus der gegenwärtigen Situation?
Einerseits drängt es die Generäle, die bis Gorbatschow im Lande eine entscheidende Rolle spielten und dann praktisch entmachtet wurden, nun in die Politik. General Kaschkow, der die Operation im Tschetschenienkrieg führt, werden beispielsweise politische Ambitionen nachgesagt. Andererseits ist die russische Innenpolitik chaotisch. Reformer wie Tschubais sind für den freien Markt und einen ungehemmten Kapitalismus, dann rufen sie wieder nach der starken Hand und wollen eine Lösung à la Pinochet. Von diesen so genannten Reformern ist sehr wenig zu erwarten. Erst die nächste Generation, die in zehn bis 15 Jahren an die Macht kommt, wird es gelernt haben, wirtschaftlich zu denken. Sie hat dann die Chance, die riesigen Strukturprobleme Russlands zu lösen.
Wie sähe die ideale Lösung für den Tschetschenienkonflikt aus?
Grundsätzlich sollte ein Volk, das nach Unabhängigkeit strebt, diese auch erhalten. Tschetschenien ist ein komplizierter Fall. Denn die Tschetschenen waren ja schon einmal de facto unabhängig: Nach dem Sieg von 1996 wurden die russischen Gesetze nicht mehr beachtet, es gab keine russische Polizei mehr. Seit sieben Jahren zahlen die Tschetschenen auch keine Steuern. Aber viele nutzen diese Unabhängigkeit, um auf russischem Territorium Straftaten zu begehen. Anstatt eine Wirtschaft aufzubauen, leben viele Tschetschenen von Entführungen, Raub und Diebstahl. Die ideale Lösung wäre, das Problem wie einen brennenden Wagen einen Abhang hinab zu kippen: alle Verbindungen zu kappen und Tschetschenien zu einem fremden Staat zu machen. Kein russischer Präsident könnte eine solche Entscheidung treffen. Denn die Verfassung verpflichtet den Präsidenten zur Wahrung der territorialen Integrität. Ließe der Präsident Tschetschenien gehen, bekäme er mit 100-prozentiger Sicherheit ein Impeachment-Verfahren an den Hals. Und das kann sich kein Präsident leisten – zumal Republiken wie Dagestan und Inguschetien ebenfalls in die Unabhängigkeit streben und beginnen, den Russen Probleme zu bereiten.Interview: Werner Bloch
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