: „Es“ ist im Wald
Bald hört dich niemand mehr. Aber du spürst: Etwas ist da. In seinem neuen Roman begleitet Stephen King ein Mädchen auf ihrem Irrweg durch den Wald. Eine Blair Witch hat er für den Horror nicht nötig ■ Von Niels Werber
Wer einmal in den Alpen vom Wanderweg abkommt, wird sich doch niemals wirklich verlaufen, denn immer sieht man im Tal die Almen und Dörfer liegen oder hört doch das Läuten der Glocken. Findet man den Pfad nicht wieder, folgt man selbst in der Nacht dem Geläut oder den Lichtern ins Tal. Der Schritt vom Wege bleibt so ohne gravierende Folgen. Selbst in den Naturparks und Schutzgebieten stößt man allenthalben auf Zeugnisse der Zivilisation. Nirgendwo kann man hier zu Lande länger als ein paar Stunden wandern, ohne auf Hochspannungsleitungen, Straßen oder Eisenbahnlinien zu stoßen. Wenn ein kleines Mädchen kaum glauben mag, im Wald einen alten Torpfosten zu finden, können wir dies fast nicht verstehen. Um ihre Zweifel und dann ihre Freude darüber zu begreifen, dass der Pfosten samt seinem rostroten Ringbolzen von allerbester Realität ist, muss man Trisha auf ihrer Irrfahrt durch die Wälder von Maine folgen.
Dort, im schwach besiedelten Norden, sind Wälder keine gehegten Forste, durchzogen von Wanderwegen des Alpenvereins, Forststraßen, Hochsitzen und Waldgaststätten, sondern Urwälder. Dort kann man sich so verzweifelt verlaufen, wie Stephen King dies in seinem neuem Roman „Das Mädchen“ beschreibt.
Trisha ist neun Jahre alt, Scheidungskind, hat einen pubertierenden Bruder, Pete, und eine Mutter, die die Geschwister wöchentlich zu Ausflügen zwangsrekrutiert. Im Frühsommer 1998 ist geplant, den berühmten Appalachian Trail einen Samstagnachmittag entlangzuwandern. Streitend wie immer, gehen Pete und seine Mom voraus. Trisha – genervt von diesem ewigen Wortwechsel – folgt ein paar Schritt hinterher und versucht trotz allem zu genießen, wie schön dieser Wald ist, wenn man ihn vom Weg aus betrachtet. Als Trisha ankündigt, sich ein Stück in die Büsche zu schlagen, um pinkeln zu gehen, wird das „unsichtbare Mädchen“ von dem lautstark zankenden Paar überhört. Sie gehen weiter, während Trisha sich züchtig so weit vom Pfad entfernt, dass niemand ihr bei diesem Geschäft zusehen kann.
Nur ein paar Meter trennen sie vom Wanderweg, noch hört sie aus der Nähe die „gekränkte, empörte Stimme ihres Bruders“. Als sie fertig ist, geht sie aber nicht den Weg zurück, den sie gekommen ist, sondern entschließt sich, den kürzeren Weg in Richtung der Stimmen zu nehmen, die vom Pfad „so deutlich zu hören waren“, um den kleinen Vorsprung ihrer Mutter und Petes schnell wieder einzuholen. Diese Abkürzung auszuprobieren „war die schlechteste Idee ihres Lebens“.
Unvorstellbar, was aus dem Entschluss, schnell mal auszutreten, alles folgen kann. Das dichte Unterholz, ein kleiner Abhang verhindern, dass sie geradewegs den eben verklungenen Stimmen zum Weg folgen kann. Als sie nach zehn Minuten horcht, um sich neu zu orientieren, nimmt sie nichts Menschliches mehr wahr. Bald sagt ihr eine „beunruhigende innere Stimme“, dass sie vielleicht „nie aus diesem Wald“ herauskommen wird. Bald schreit auch sie selbst ganz laut: „Hilfe, ich hab mich verlaufen.“
Niemand wird sie hören, nach einigen Tagen wird sie es erst gar nicht mehr versuchen, derart auf sich aufmerksam zu machen. Denn wenn man allein in den alten Wäldern zwischen Maine und New Hampshire ist, zumal in der Nacht, möchte man lieber überhört und übersehen werden. Aber von wem?
In der Nacht im Wald hört Trisha „andere Geräusche“, die „es“ macht. Ihre innere, „kalte Stimme“ sagt Trisha, dass „es“ die Witterung aufgenommen hat und sie nun holen kommt. „ ,Es gibt kein Ding‘, flüsterte Trisha mit verzweifelter, zitteriger Stimme“, aber ihr Alter Ego weiß es besser: Dass „es“ zwar zu hören, aber noch nicht gekommen sei, liege nur daran, dass „es“ noch warte, „weil Angst ihren Geschmack verbessert, weil sie das Fleisch süßer macht“. Trisha wusste, dank eines speziellen „Satzes verborgener Nerven, der in der Welt von Häusern und Telefonen und elektrischer Beleuchtung vielleicht ruhte und erst hier draußen in den Wäldern aktiv wurde“, dass „es hier etwas gab“.
Es ist da, in den Wäldern von Maine, und man kann sich glücklich schätzen, woanders zu sein. Was immer da ist, es mag da bleiben, nie würde man auf die Idee kommen, „es“ in seinem Wald mit der Digitalkamera suchen zu wollen. Stattdessen hofft man gegen alle Chancen, dass Trisha aus dem schier endlosen Wald herausfindet.
Frank Böckelmann hat in einem schönen Essay über „Das Andere des Waldes“ (in: „Deutsche Einfalt“, Hanser Verlag, München, Wien 1999) an die Zeiten erinnert, als noch Urwälder Deutschland bedeckten. Im 12. Jahrhundert war der Wald unermesslich, ein Unort, den man besser nicht betritt. Jenseits der Rodungen und wenigen Straßen öffnet sich ein grenzenloser, „recht- und herrenloser, ungeschützter, unheimlicher“ Raum, von dessen namenlosen „Schrecken und Wundern“ nur die Sage kündet. Wer in den Wald ging, kam selten zurück.
Wie das Hochgebirge, die Wüste oder der Ozean konnte der Wald als der schiere Gegensatz von allem Heimischen, Vertrauten und Erwartbaren als Ort des Anderen gelten. Diese absolute „Unheimlichkeit“ des Waldes ist uns durch Märchen und Mythen überliefert. Schrecklich ist er, weil er das Andere unserer Zivilisation ist: Deshalb hat er für seinen Horror gar keine Blair Witch nötig.
Dieses „Andere des Waldes“ gewinnt in Kings neuem Roman eine überzeugende Anschaulichkeit. Dieselben Nervensätze, die Trishas Wahrnehmung schärfen, sträuben unsere Nackenhaare. „Es“, das wie in dem gleichnamigen Werk Kings jene Gestalt annimmt, die wir ihm verleihen, wird für uns erfahrbar. Je nach Leser geben Märchen oder Movies dem Anderen des Waldes Kontur. Der beinahe globalen Transformation aller Natur in Kulturlandschaften zum Trotz ist seine Unheimlichkeit immer noch für jeden evident. Es ist unvertraut und anders, deshalb macht es Angst.
Trisha, die alle vergleichsweise banalen Strapazen wie Mückenschwärme, Müdigkeit, Hunger so tapfer durchhält wie eine Musterpfadfinderin, spürt „es“, und die dicht an ihrem Bewusstsein entlang geschriebene Erzählung lässt „es“ auch den Leser spüren – und es gehört zu den großen Vorzügen von Kings Erzählkunst, dass auch lange genug völlig ungeklärt bleibt, was „es“ ist und ob es sich nicht ohnehin um die Einbildung eines delirierenden Mädchens handelt. Dass aber in der absoluten Einsamkeit der Nacht in den alten Wäldern von Maine „etwas“ kommt und Trisha beobachtet, steht fest.
Kings Versuch, Trishas verzweifelten Weg aus der Innenperspektive zu erzählen, ist leider nicht restlos geglückt. An manchen Stellen wirkt das neunjährige Mädchen allzu altklug und frühreif. Als sie von Wespen gestochen wird, die wie „hecklastige, hässliche, plumpe Giftfabriken“ wirkten, „dachte sie“ panisch: „Wenn ich empfindlich darauf reagiere, sterbe ich.“ Als sie nach Tagen des Hungerns „bemerkte, wie spitz ihre Hüftknochen hervortraten“, dachte sie: „Wenn ich noch ein paar Pfund abnehme, kann ich die neuste Pariser Mode vorführen.“ Nachdem sie sich auf einfachste Dinge besonnen hat, sagt sie: „Elementar, mein lieber Watson.“
Manche für ein kleines Mädchen unübliche Bemerkung zerstört die intensive Erfahrung ihrer Angst und ihrer Hoffnung, die King sonst so überzeugend vermittelt. Mancher mag für diese kleinen Unterbrechungen der suggestiven Erzählung sogar dankbar sein, denn der kritische Blick auf den Stil bringt „es“ wieder auf gehörige Distanz.
Aber natürlich kommt „es“ zurück – und sei es in den Albträumen.
Stephen King: „Das Mädchen“. Schneekluth Verlag, München 2000. 302 Seiten, 38 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen