Karl Moik in Peking

Nach 1.000 Talkshows und Videoschnipseln macht Jürgen Kuttner jetzt richtiges Theater: „Renegaten? – Lei Feng!“ Paulus, Jens Lehmann und die taz wechseln ihre Überzeugungen in der Volksbühne ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Nach tausend Talkshows, 530 Videoschnipselvorträgen und einem schönen Indienabend wollte Jürgen Kuttner auch einmal richtiges Theater machen. Mit Schauspielern, echten Texten, Bühnenlarifari und allem Drumrum und auf einer größeren Bühne als der des Praters, wo er vor anderthalb Jahren die Leserbriefe an die taz über Erfahrungen im wilden Osten prima inszeniert hatte.

Nun also: „Renegaten? – Lei-Feng!“ Ein schönes Stück, auch wenn kurz vor Beginn sechs sozialdemokratische Kontrolleure der BVG einen Fahrschein sehen wollten, der nicht da war. Lei-Feng ist der Held der Volkskommune, misshandelt vom Feudalismus, befreit von der Volksbefreiungsarmee, ein bescheidener Mensch, der fröhlich am Aufbau des Sozialismus mitwirkte, die Schriften Maos eifrig studierte und vielen Millionen ein Vorbild war.

Eine schöne Version der Geschichte von Lei-Feng hatte Kuttner in dem rowohlt-Klassiker „das Mädchen aus der Volkskommune“ gefunden. Das 1972 in der Reihe „das neue Buch“ erschienene Kompendium versammelt verschiedene agitatorisch-lehrreiche Bildergeschichten, die von weitem so ausehen, wie die in anderem Sinne aufklärenden „Foto-Love-Storys“ aus der Bravo. In der gleichen Reihe war übrigens auch das „obszöne Werk“ von Bataille erschienen, das Castorf zur Zeit aufführt.

Die Texte aus dem „Mädchen aus der Volkskommune“ wurden von dem ehemaligen Maoisten (KPD-ML) und taz-Chef Arno Widmann aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt, womit wir schon beim Thema wären: Renegaten. Überzeugungswechsler, Personen, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängen, Typen wie Paulus (Ex-Römer), Jens Lehmann (Ex-Schalke), Martin Walser (Ex-DKP), Antje Vollmer (Ex-KPD-AO), Jürgen Trittin (Ex-KPD-ML), Joschka Fischer (Ex-Sponti) usw. usf.

Nervös tippelte Jürgen Kuttner auf der Bühne herum und begann, wie man es von ihm gewohnt ist, mit bildunterstützten, spiralförmigen Argumentationen. Aus Unsicherheit und Scheu vor dem großen Theater – „Ich bin ja gar kein Regisseur, ich mache nur Quatsch“ – setzte er zunächst aufs Bewährte. Das liebe Gedicht eines chinesischen Pioniers an seine kleinen deutschen Freunde oder Szenen aus dem „Musikantenstadl“, das vor ein paar Monaten aus der verbotenen Stadt in Peking übertragen wurde und als besonders abstoßender Beleg eines Kulturimperialismus diente, der alles Fremde zur Kulisse degradiert. „Das ist die Bundesrepublik“, sagte später der Schriftsteller Klaus Schlesinger. Dass er lieber „die Wehrmacht in Warschau als Karl Moik in Peking“ sehen würde, sagte Kuttner – ein seltsamer Versprecher.

Zunächst bemühte sich der ehemalige taz-Chef, zu erklären, worum es gehen sollte: um den Umgang mit Vergangenheit, den man den Ostlern verordnet hat, die sich für die Mauertoten, das „Auschwitz der Seelen“ (Jürgen Fuchs) und den „Mengele des Ostens“ verantwortlich fühlen sollen, während Teile der westlichen Elite ihre maoistische Vergangenheit, ihre Begeisterung für die blutige Kulturrevolution, erfolgreich verdrängen oder sie „mit einem Spiegel-Grinsen in der Fresse“ nur noch als anekdotischen Authentizitätsbeweis zitieren. Wenn Ex-Linke meinen, ihre frühere Linksradikalität mache ihr jetziges geldgeil-schleimiges Einverstandensein mit allem und jedem umso glaubwürdiger, hätten Mielke und Sascha Anderson die besten Voraussetzungen zum Bundeskanzler. Allerdings bezahlt die Volksbühne die Aufrechten auch nicht schlecht.

„Renegaten? – Lei Feng!“ ist Thesentheater, eine Einladung zum Denken. Und selbst die Fehler der kuttnerschen Argumentation in der Volksbühne führen dabei zur Klarheit. Die Inszenierung ist überraschend gut gelungen, Milan Peschel gibt einen liebenswert euphorischen Lei-Feng, der chinesische Text erinnert melancholisch an eine Zeit, als es möglich schien, Geschichte ins Positive zu wenden. „Bitte Onkel von der Volksbefreiungsarmee, erzähl uns eine Kriegsgeschichte!“

Reden wir von Fehlern: Unrichtig ist es, Joschka Fischer zum maoistischen Musterrenegaten zu machen – er war Sponti, also erbitterter Feind der Maoisten. Falsch ist die suggerierte Annahme, 68 sei maoistisch dominiert gewesen und Ex-Maoisten hätten nun die Macht. Richtig ist vielmehr, dass der grö ßte Teil der damals Aktiven ziemlich abgestürzt ist, und die, die sich treu blieben, leben von der Stütze und kiffen sich aus Protest den ganzen Tag in dritten Hinterhöfen das Hirn weg. Die Vergangenheitsbewältigungsanalogie ist fragwürdig, weil die Ex-West-Maoisten ein anderes Verhältnis zu ihrem Staat hatten als die DDRler.

Trotzdem hat sich Kuttners Wagnis gelohnt, man hofft auf weitere Stücke und geht mit einem Satz Lei-Fengs ins Bett: „Ich habe verstanden, und in meinem Herzen ist es Tag geworden.“

Die nächste Vorstellung findet am 21. Januar statt, um 19.30 Uhr in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Im Anschluss daran, um 23 Uhr, im Sternfoyer: „Sozialismus und Euphorie. Ein kulturrevolutionäres Ereignis mit Roten Garden, Film und Musik“.