: Fernsehen total gefühlsecht
Mit allen Mitteln versucht das Unterhaltungsfernsehen Quote zu machen – vor allem mit Gefühlen. Setzten die Quizshows von einst auf den Triumph des Sieges und die Trauer der Niederlage, werden die Affekte inzwischen wie am Fließband produziert. Dabei ist Authentizität Trumpf. Die neue Sensationsshow „Ihr seid wohl wahnsinnig“ verbindet ab heute die neue Vorliebe für Extremsport mit den traditionellen TV-Spielregeln vom Mitfiebern Von Klaudia Brunst
Ein Warnhinweis hat üblicherweise etwas von Lebensangst, Hysterie, Überversicherung. Freilich nicht, wenn er als Vorspann einer Primetime-Unterhaltungsshow gesendet wird, in der Leute wie du und ich vor laufender Kamera das „Abenteuer ihres Lebens“ bestehen. „Achtung! Wichtiger Hinweis. Alle Aktionen von ,Ihr seid wohl wahnsinnig‘ werden unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt und sind auf keinen Fall zur Nachahmung empfohlen“, heißt es zu Beginn der neuen Samstagabendshow.
Aus Haftungsgründen ist der Veranstalter RTL rechtlich verpflichtet, diese Belehrung auszustrahlen. Aber was vom Gesetzgeber als staatliche Fürsorge gegenüber leichtsinnigen Zuschauern gedacht war, verkehrt sich hier unversehens in sein Gegenteil. Durch den prominent platzierten Warnhinweis empfiehlt sich die neue Trendshow allen Abenteuerlustigen als genau die „gefährlichste Show der Welt“, als die der Untertitel sie vollmundig beschreibt. Vor allem aber ist die Belehrung die Initiation eines bedeutsamen „Authentizitätsversprechens“. Denn nur wenn wir beim Zuschauen einer so genannten Action-Event-Show wie dieser der festen Überzeugung sind, bei den Mutproben ginge es tatsächlich um Leben und Tod, kann die aufwendige Inszenierung ihre Anteil nehmende Faszination überhaupt entfalten.
„Ihr seid wohl wahnsinnig“ markiert eine neue Ära des Event-Fernsehens. Hier wird nicht mehr nur an Teebeuteln geschnüffelt, hier geht es nicht um so etwas Ungefährliches wie familiäre Versöhnung oder überwundenen Ekel. Hier vollführen ungeübte Laien im Fernsehen und für das Fernsehen äußerst gewagte Stunts: Eine Zahnarzthelferin dreht auf den Flügeln eines Doppeldeckers Loopings, und Luzia, Mutter zweier Kinder, versucht einen Jeep auf zwei schmalen Stahlplanken über eine 35 Meter tiefe Schlucht zu lenken. Ihr Drahtseilakt wird mit mehreren Kameras gefilmt, keine ihrer Gefühlsregungen entgeht den Objektiven – auch nicht Luzias Schrei, als der Jeep auf halber Strecke krachend in den australischen Abgrund donnert.
Schon immer ging es im Spielshowfernsehen um die Zurschaustellung von Gefühlen. Nicht erst in den Versöhnungsorgien von „Verzeih mir“ oder „Bitte melde dich“ oder den televisionären Omnipotenzfantasien von „Lass dich überraschen“. Schon Heinz Maegerleins Wissensquiz „Hätten Sie’s gewusst“ dealte letztlich mit Emotionen. Denn jede Spielsituation zwischen Gewinnen und Verlieren transportiert Glück oder Trauer, Jubel oder Enttäuschung, Stolz oder Scham. Während solche Wechselbäder der Gefühle im echten Leben aber für Unbeteiligte kaum gefahrlos zu beobachten sind, werden in den televisionären Wettstreits Affekte zur Freude der Zuschauer wie am Fließband hergestellt. Schon die Masterfrage bei „Der große Preis“ hatte diese besondere emotionale Fallhöhe.
In den Event-Shows der Neunzigerjahre wird das heftige Ringen um Sieg oder Niederlage nun noch mit einem zweiten Gefühl aufgeladen: In der „100.000-Mark-Show“ kann das Gewinnerpaar eine bemerkenswert hohe Geldsumme erspielen – ein Gewinn, der womöglich ihr weiteres Leben verändert. Bei Linda de Mol steht am Ende jeder Show eine rührselig inszenierte Hochzeitszeremonie. In der „Glücksspirale“ werden die Kandidaten mit einer besonders hohen emotionalen Hürde konfrontiert: Vor einem gespannten Publikum müssen sie ihre Phobien wie die Furcht vor Spinnen oder ihre Ekelschwelle zum Beispiel im Umgang mit Blutegeln überwinden. Die Mutproben sind fast immer spektakulär, oft geschmacklos und gelegentlich gefährlich nah an der Grenze zum Stunt-TV.
Letztes Jahr wurde den Verantwortlichen der Sat.1-Show die Sache offenbar einmal zu heiß. Als es darum ging, einen Kandidaten herauszufordern, der sich vor Affen fürchtet, wurde der junge Mann mit einer ganzen Reihe von immer größeren Affen konfrontiert. Höhepunkt sollte die Begegnung mit einem ausgewachsenen Menschenaffen sein. Ein stattlicher Käfig wurde ins Studio gerollt, mit ihm lief ein Präzisionsschütze nebst Betäubungsgewehr ein. Aus Sicherheitsgründen, wie Moderator Kai Pflaume erklärte. Der Proband sollte in den Käfig steigen und dem haarigen Tier eine Banane reichen, dann würde er seine Mutprobe gewonnen haben. Mit schlotternden Knien absolvierte der Kandidat seine Aufgabe und dachte gar nicht daran, dass der Affe womöglich nicht echt sein könnte. Auch die Zuschauer staunten ohne Argwohn. Fernsehkritiker wollen aber nach der Ausstrahlung in Erfahrung gebracht haben, dass im Käfig ein Statist im Gorillakostüm hockte. Aus Sicherheitsgründen, was doch irgendwie beruhigt.
Aber die Branche erregte sich: Von Scharlatanerie und unlauterem Tun war die Rede. Eigentlich zu Unrecht, denn die Show hatte mit ihrer Inszenierung das anvisierte Ziel ja durchaus erreicht: die Emotionsproduktion war geglückt. Der Kandidat hatte die Hosen gestrichen voll, seine Anspannung war für alle Welt sichtbar auf dem Höhepunkt angelangt. Freilich überträgt sich eine solch außerordentliche Gefühlslage für das Publikum nur in Rezeptionsgewinn, wenn der Zuschauer gleichermaßen von der Gefahr der Übung überzeugt ist wie der ängstliche Kandidat. Bereits mit dem ersten Zweifel wird aus dem tapferen „Glücksspiralen“-Held im Affenkäfig ein würdeloser Hanswurst. Ohne das Authentizitätsversprechen fällt die Inszenierung in sich zusammen, dafür drängt sich ein geradezu lächerliches Bild auf: Erwachsener Mann mit geschälter Banane füttert schweißgebadet Sat.1-Statisten. Wow.
Wenn RTL mit „Ihr seid wohl wahnsinnig“ also aufregen möchte, muss die Gefahr schon einigermaßen echt sein. Oder besser: echt wirken. Denn es wäre eine Katastrophe für das Sender-Image, wenn während der Aufzeichnungen einem Mitspieler auch nur ein Haar gekrümmt würde. Das wissen auch die Passanten, die von den Moderatoren Bärbel Schäfer und Kalle Pohl mit dem Angebot überrascht werden, das „Abenteuer ihres Lebens“ zu bestehen. Die vom Fernsehen bringen mich schon nicht um, werden die Abenteurer zu Recht überlegen und bedenkenlos das Angebot annehmen.
Mit komplizierten Spielregeln versucht das Showkonzept von „Ihr seid wohl wahnsinnig“ diesen widerstreitenden Anforderungen von Gefahr und Gefahrlosigkeit gerecht zu werden. Die Sicherheitsgarantie übernehmen die beiden Moderatoren, die ihren Schützlingen jederzeit die Möglichkeit des Ausstiegs aus der gefährlichen Show anbieten. In diesem Fall müssten Kalle Pohl oder Bärbel Schäfer selbst den Stunt ausführen, was wohl das best mögliche Indiz für die Sicherheit der Übung ist. Während die Kandidaten also nein sagen können, stehen hier die beiden Showmaster im Wettbewerb: Sie müssen nämlich am Ende der Sendung das Saalpublikum davon überzeugen, die besten Stunts der Show aufgeboten zu haben. Wer von den beiden die Abstimmung verliert, wird zur Strafe einem waghalsigen Nerventest unterzogen.
Natürlich ist die ganze Spielidee, von der sich RTL bahnbrechende Impulse verspricht, dem anhaltenden Boom der Extremsportarten von Bungee bis Canyoning verpflichtet. Dennoch entsteht im Kern die Faszination nach dem gleichen Prinzip, mit dem schon Rudi Carells senile Überraschungsparty reüssierte. Mit geschulterter Kamera holt das Fernsehen rechtschaffene Bürger aus ihrem Alltag ab, entführt sie in den australischen Dschungel und bereitet ihnen ein einzigartiges Erlebnis, ohne Kosten, Mühen oder Risiken zu scheuen. Dabei werden mit dem partnerschaftlichen Abkommen „Wenn du nicht fliegst, fliege ich“ die Grenzen zwischen Stars (Pohl/Schäfer) und Zuschauern (Luzia) für einen zauberhaften Moment aufgehoben. Diese egalitäre Allianz machte schon seinerzeit den Erfolg von „Wetten, dass“ aus, als den manischen Teebeutelschnüfflern ein prominenter Wettpate zur Seite stand.
In der ersten Staffel von „Ihr seid wohl wahnsinnig“ traute man den aus Sicherheitsgründen eher harmlosen Kandidaten-Stunts noch nicht zu, die ganze Zweistundenshow zu tragen. Also wurden Profis zwischen die Laienabenteurer gemischt. Ihre Stunts sind natürlich viel mutiger, gefährlicher und spektakulärer. Aber schon bei den Previews wurde deutlich, dass diese Steigerungen für die Zuschauer kaum ins Gewicht fielen. Der Aufsehen erregende Unfall eines Stuntman, den RTL in voller Länge vorführen wird, zeigt die Differenz: Beim Versuch, eine kleine Südseeinsel mit dem Speedboot zu überspringen, geriet das Hochgeschwindigkeitsgefährt ins Trudeln und schlug kopfüber auf den Fels auf. Dem Augenschein nach hätte der Insasse tot sein müssen. Und in den Augen der entsetzten Bärbel Schäfer blitzt auch für einen Moment so etwas wie authentische Todesangst auf. Allein: Der Profi war auch im Moment des Crashs Profi genug und überlebte das Missgeschick mit harmlosen Blessuren. Erwartet man von einem geschulten Stuntman etwa etwas anderes? Um wie viel spannender ist es da zu sehen, wie eine Arzthelferin das Fliegen lernt. In der kommenden Saison will RTL aus dieser Erkenntnis Schlüsse ziehen. Wenn erst alle auf den Geschmack gekommen und ausreichend Bewerbungen eingetroffen sind, wird der Sender schon in der zweiten Staffel ausschließlich auf die emotional hochkarätigeren Zuschauerstunts setzen. Der Wahnsinn ist wohl kalkuliert.
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