Sänger von Auschwitz, Seele der Gemeinde

Ein großer Tenor, ein verehrter Medienstar,ein echter Patriarch: Estrongo Nachama, Oberkantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, ist gestorben. Der in Saloniki Geborene musste für die Nazis singen und verlor vorübergehend seine Stimme. Nach der Shoah blieb er im Land der Täter und belebte den Synagogengesang neu ■ Von Philipp Gessler

Als vor zwei Jahren ein englischsprachiger Stadtführer über das boomende „Jewish Berlin“ herauskam, geschrieben von jungen Juden der Hauptstadt, war sein Bild auf dem Buchdeckel. Wessen sonst? Estrongo Nachama. Der 81-jährige Oberkantor war die Seele der Jüdischen Gemeinde Berlins, mit fast 12.000 Mitgliedern die größte Deutschlands. Und er war mehr: Er war die Stimme des Synagogengesangs in Deutschland.

Er war? Der sanfte, singende Opa der Jüdischen Gemeinde ist am Donnerstagnachmittag neben seiner Frau Lilly, mit der er 48 Jahre verheiratet war, entschlafen. Er war schon lange krank, hatte es am Herzen – vielleicht weil er zu viel ertragen musste in diesem Leben.

Denn was war das nur für ein Leben! Der Sohn einer frommen jüdischen Familie in Saloniki sollte ursprünglich Getreidehändler werden wie sein Vater. Doch seine Mutter schickte Estrongo auf eine Kantorenschule, weil sie glaubte, wie die Rabbiner würde er dann nicht zum Militär eingezogen. Als er doch zur Musterung gehen musste und in Uniform zur Mutter zurückkam, fiel sie in Ohnmacht.

Nach der Besetzung Griechenlands durch deutsche Truppen musste Nachama den gelben Stern tragen und wurde wie seine ganze Familie samt Tanten und Cousins nach Auschwitz deportiert. An der Rampe wurden sie getrennt: Er sah keinen der Verwandten je wieder.

Im NS-Vernichtungslager wurde aus Nachama „Der Sänger von Auschwitz“. So riefen ihn seine Mithäftlinge, weil er immer bei der Sklavenarbeit sang und für die Nazischergen nach der Plackerei Klassiker wie „O sole mio“ intonieren musste. Das Brot, das sie ihm dafür in den Dreck warfen, ließ ihn überleben.

Als die Rote Armee immer näher kam, wurde er mit anderen Häftlingen ins KZ Sachsenhausen gebracht. Er fand kein Lied mehr. Den Todesmarsch der Insassen überlebte er knapp. Als die sowjetischen Truppen sie befreiten, streichelten die Soldaten die völlig entkräfteten Menschen.

Nachama wurde derPavarotti der Synagogen

Er wollte zurück nach Griechenland, blieb aber wie viele Juden in Deutschland hängen: Nachama erkrankte, auf der Durchreise, in Berlin an Typhus. Heinz Galinski, der Übervater der Juden nach dem Krieg, überzeugte den Tenor nach seiner Gesundung, Oberkantor der traditionsreichen Gemeinde zu werden. Nachama heiratete Lilly, die mit blond gefärbten Haaren versteckt in Berlin überlebt hatte. Ihr Sohn Andreas wurde geboren, heute Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde.

Estrongo Nachama musste umlernen, die westeuropäisch-aschkenasische Gesangstradition, in der Deutschland seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Pogromnacht 1938 führend war, lernen. Er machte dies so meisterhaft, dass er europaweit in der jüdischen Gemeinschaft ein Star wurde, ein Pavarotti der Synagogen, umringt von einer Fangemeinde auch in normalen Konzertsälen, mit seinem Publikum spielend mit der Freude eines kleinen Jungen.

Dahinter war ein großer Glaube an den Gott Abrahams, den auch die Christen anbeten. Vielleicht deshalb überwand er sich schon 1949 und sang erstmals in einer Kirche. Er war immer ein Grenzgänger, übersprang selbst den Eisernen Vorhang, um auch für die kleine Ostberliner Gemeinde zu Mauerzeiten an Beschneidungen, Hochzeiten und Beerdigungen da zu sein. Von „Honni“, so erzählte er einmal, hat er noch einen Orden bekommen, ausgerechnet ein Kreuz. Auch die Bundesrepublik dekorierte ihn mit drei Bundesverdienstkreuzen, geehrt wurde der große Sänger in aller Welt.

Wer ihn in seiner Welt, der Synagoge an der Pestalozzistraße in Westberlin, erlebte, konnte kaum die Augen von ihm lassen: Der etwas zittrig gewordene Mann war der Mittelpunkt des Gottesdienstes, charmant, elegant selbst in seinem Talar, würdig und gelassen.

Bei der Gedenkfeier für Ignatz Bubis im vergangenen Jahr, strich er in einer großen kleinen Geste über das überlebensgroße Foto des Zentralratspräsidenten neben ihm auf der Bühne – dies sagte mehr als die langen Reden an diesem Morgen. Als das zweimal geschändete Grab Galinskis nach der Restaurierung wieder eingeweiht wurde, sang er das Trauerlied „El Maleh Rachamim“, schmetterte dabei die Namen der Todeslager in die Frühlingsluft. Nachama hat gesagt, wenn er an seine Eltern denke, weine er noch heute.

Im Oscar-gekrönten Film „Cabaret“ hat er Anfang der 70er-Jahre mitgespielt – als Kantor bei einer Hochzeitsszene, als was sonst? Es ist die Geschichte eines christlichen Beaus im Berlin der Weimarer Republik, der eine junge Jüdin aus sehr gutem Hause auch wegen ihres Geldes rumkriegen will, sich aber wider Erwarten in sie verliebt und sogar zum jüdischen Glauben übertritt, um sie trotz des Naziterrors heiraten zu können. Das Tragikomische an der Geschichte, das Scheinwerferlicht, der Gesang für so ein tolles Paar: Nachama wird daran Spaß gehabt haben. „Nachama“ heißt übersetzt: Trost.