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Zurück in die Ohnemichwelt

Die Werkbühne Berlin und das Actors’ Ensemble inszenieren Texte von Birger Sellin

Als 1993 erstmals Texte von Birger Sellin unter dem Titel „Ich will kein Inmich mehr sein“ erschienen, war die Sensation perfekt: Erstmals hatte ein schwer unter Autismus leidender Mensch seine Gedanken äußern können.

Sellins Texte entstehen mit Hilfe eines Computers, während des Schreibens muss eine Vertrauensperson, seine Mutter, den Schreibarm des gehandicapten Mannes stützen. Die Texte, mit denen sich Sellin auf diese Weise zu Wort meldete, verfügten über eine große dichterische Kraft und fanden auch als literarische Werke ein großes Echo.

Allerdings meldeten sich sogleich Kritiker, die dem Behinderten die Möglichkeit absprachen, sich komplex äußern zu können, und seine Mutter als Urheberin der Texte zu entlarven versuchten. Die Debatte wandte sich folglich der Frage zu, bis zu welchem Grad ein solcher Text authentisch sein könne. Das Poetische und die Inhalte der kurzen Wortfolgen traten dabei mehr und mehr in den Hintergrund.

Insofern war es zu begrüßen, dass sich die Werkbühne Berlin in Koproduktion mit dem Actors’ Ensemble New York daran gewagt hat, die Texte Sellins auf die Bühne zu holen. Doch bedeutet Dramatisierung immer eine extreme Versinnlichung des Textes, insbesondere, wenn der Vortrag durch eine aufwühlende Percussion unterstützt wird.

Das Stück heißt „Birger!“, und bereits die Wahl dieses Titels drückt dem Dichter seine Texte zurück in den Kopf. Wert gelegt wird auf unbedingte Autorenschaft, die Botschaft steht im Hintergrund. Der Untertitel „eine ballade aus der ohnemichwelt“ verweist darauf, dass es um ein tragisches Moment zu gehen hat – entsprechend lässt die Regisseurin Julie Brodeur ihre beiden Schauspieler einen „Birger“ darstellen. Was hier heißt, die Worte spektakulär lang zu ziehen, sie aufzuladen mit dramatischen Pausen, sie zu unterfüttern mit teils scheuen, teils heftigen Bewegungen und sie durch die musikalische Zuarbeitung zu einer womöglich für schön gehaltenen Seltsamkeit zu verdichten. Natürlich wird dann am Ende gesungen.

Zwei Textfiguren, die Sellins Texten eigen sind –der Gegensatz „Ich“/„Ihr“ und die polemische Selbstbezichtigung als „Doofer“ – werden in dieser Inszenierung zu einem Herrschaftsmonolog verarbeitet und zur reinen Abgrenzung benutzt: er/wir. Der Autor wird auf diese Weise in seine autistische Welt zurückgestoßen und zu einer exotischen Betrachtung freigegeben.

Die Gelegenheit, die Texte als Material zu benutzen, wurde verschenkt; eine Lesung oder selbst der naive Versuch, Sellins Alltag abzubilden, wäre besser gewesen. So aber bleibt ein Stück übrig, das spektakulär anzusehen ist und dafür in Kauf nimmt, den Behinderten als Behinderten auszustellen.

Jörg Sundermeier

Weitere Vorstellungen: 20 Uhr, 22. und 23. Januar, Fabrik, Schwedter Straße 3

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