Die Armen sitzen in der Falle

Im inguschetischen Flüchtlingslager Sputnik vegetieren tausende Tschetschenen. Ohne Schmiergelder zu zahlen, kommt hier keiner an. Das Kriegsgeschäft blüht ■ Aus Nasran Klaus-Helge Donath

Fast alle Schüler im Lager husten und sind krank. Neun von zehn werden eines Tages an Tuberkulose erkranken.

chichtwechsel. Eilig huschen die Zweitklässler durch die Zelttür. Wer ein Holzscheit hat, legt es neben dem ovalen Gussofen vorne an der Tafel ab. Vorsichtig, wie ein zerbrechliches Kleinod. Neben Schulbuch, Heft und Bleistift gehört ein Brennholz zur Schulausrüstung im inguschetischen Flüchtlingslager Sputnik.

Doch kommen einige Kinder auch mit leeren Händen. Holz ist eine knappe Ressource und daher ein hochwertiges Tauschmittel. Ihre Eltern gehören zu den Ärmsten der Armen. Nachmittags brennt der Ofen, doch die schwache Glut spendet keine Wärme. Die kleinen vermummten Gestalten tragen alles auf dem Leib, was sie auf der Flucht retten konnten.

Am Morgen fiel die erste Schicht aus. „Kein Heizmaterial“, stöhnt Marina Gasijewa, die Direktorin der Lagerschule. Fast alle Schüler husten und sind krank. „Neun von zehn“, fürchtet die ehemalige Russischlehrerin aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, „werden eines Tages an Tuberkulose erkranken.“ In Sputnik klagen alle über die grimmige Kälte. Nachts fallen die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt. Fürs Heizen ist indes jede Famile selbst zuständig. Womit? In der Steppe wächst weder Baum noch Strauch.

7.159 Flüchtlinge leben in 628 Zelten in der Notunterkunft wenige Kilometer vom tschetschenischen Grenzübergang Kawkas entfernt. Erst letzte Woche wies Lagerleiter Musa Aslambekow hundert Hilfesuchende zurück. Grund: Überfüllung. Der Vormarsch der russischen Armee, die im September die ersten Landstriche der abtrünnigen Kaukasusrepublik besetzt und hinter sich eine so genannte „befreite Zone“ errichtet hatte, konnte den Auszug der Tschetschenen nicht wirklich eindämmen. Im Gegenteil: Im fünften Kriegsmonat hausen in Sputnik mehr Vertriebene denn je. Fast die Hälfte sind Kinder.

Aslambekow hat erst vor einigen Tagen die Leitung des Lagers übernommen und kann schon einen Erfolg vorweisen: „Das Ministerium für Katastrophenschutz“, erzählt der Tschetschene, „hat die Finanzierung einer Gasleitung bewilligt.“ Doch was heißt das in kriegswirren Zeiten? Der Weg von Moskau in den Kaukasus ist weit. Wird nicht auch diese Hilfe unbemerkt entweichen wie Gas aus einer lecken Pipeline? Die Begeisterung der Lagerinsassen hält sich in Grenzen.

Die frohe Botschaft bestätigt eine bange Befürchtung: Moskau richtet sich auf einen Krieg ein, der noch Monate, wenn nicht Jahre dauern kann. Und offensichtlich hat der Kreml auch seine Pläne aufgegeben, Flüchtlinge in den befreiten, moskaufreundlicheren Gebieten im Norden Tschetscheniens anzusiedeln. Doch warum? Die staatliche Propagandamaschine hüllt sich in Schweigen.

Tagsüber, sobald der Boden erwärmt, waten die Bewohner zwischen den Zeltreihen in knöcheltiefem, zähflüssigem Brei. Jeder Schritt strengt an.

Sina Chassanowa wohnt mit ihrem Mann Raschid und den Kindern Milana und Mohammed seit Anfang November in Zelt Nummer 15, Reihe 6. Außer den Chassanows lebt noch ein Vater mit seinem Sohn auf den knapp 20 Quadratmetern. Sie haben sich eingerichtet, so gut es eben geht. Befreundete Inguschen spendeten einen Schwarzweißfernseher, andere einen Spiegel. Inzwischen ist das Geld ausgegangen, und sie sind auf die schmalen Rationen der Hilfsorganisationen angewiesen.

Die Feuerpause zum russischen Weihnachten am 7. Januar nutzte Sina mit neun Frauen, um nach Hause zu fahren und nach dem Rechten zu schauen. Sina wohnt im Bezirk Staropromyschlenny am Rande Grosnys, den die Russen kontrollieren. Für die Fahrt lieh sie sich das Geld bei Zeltnachbarn. 80 Rubel kostet die Fahrt im Kleinbus. Die reichen indes nicht. Sechs Armeeposten auf dem Weg in die belagerte Festung verlangen jeweils noch einmal 10 Rubel Mautgebühr.

Der Krieg ist vor allem für die Militärs eine kommerzielle Veranstaltung. Auf dem Weg nach Grosny kommen Sina bis unter das Dach mit Beutegut beladene Lkws entgegen. Das Haus der Familie steht noch, vom pausenlosen Bombardement hat die Außenwand Risse bekommen. Von der Einrichtung ist indes nicht viel geblieben, Marodeure haben weggeschleppt, was nicht niet- und nagelfest war. Dennoch zeigten die Diebe ein Einsehen, lacht Sina bitter. „Im Tausch gegen Raschids neue Stiefel ließen sie ihre abgelatschten Knobelbecher stehen.“

Nach vier Tagen kehrte die 39-Jährige ins Lager zurück – ohne ihre Ohrringe. Feuerwehrmann Raschid war sicherheitshalber in Sputnik geblieben wie die meisten männlichen Bewohner. Zwar erließ die Armeeführung erst letzte Woche nach den erfolgreichen Gegenangriffen der Rebellen die Anordnung, Männer im Alter zwischen zehn und sechzig Jahren nicht mehr aus dem Kriegsgebiet herauszulassen. Der Befehl verschärfte die gängige Praxis hingegen nur geringfügig.

Grundsätzlich steht Tschetscheniens männliche Bevölkerung unter Kollektivverdacht, den Rebellen zuzuarbeiten. Willkür und Schikane beherrschen die Tagesordnung. Männer müssen sich öffentlich ausziehen, eine Schande nach tschetschenischem Sittenkodex. Entdecken die Kontrolleure Spuren am Körper, Prellungen etwa, die von automatischen Waffen stammen könnten, werden sie festgesetzt und verschwinden in so genannten Filtrationslagern. „Wer will, findet immer etwas“, meint Raschid. „Hätte mich im November nicht mein Sohn begleitet, wäre ich nie hierher gekommen.“ Ihm steht nicht der Sinn danach zu kämpfen. „ Ob Russen oder Freischärler, sie stehlen doch alle.“

Raschid rührt sich während der ganzen Zeit nicht vom Fleck und starrt auf die Elektroplatte mit dem Teewasser, das nicht kochen will. Er ist müde, wie so viele Männer in Sputnik, die sich gegen den unbarmherzigsten Feind, die Resignation, verteidigen müssen. „Wir Armen sitzen in der Falle“, löst Sina endlich die Spannung. „Wer im Mercedes fährt, tausend Dollar zahlt, der kommt immer durch.“

Das Kriegsgschäft blüht. Es scheint, als trieben russische Militärs auf Kosten der Zivilbevölkerung bereits ihre Rentenansprüche ein. Auf Arbeitgeber Staat will sich in Russland gewöhnlich keiner verlassen. Allein das ist schon ein Grund, warum sich das kaukasische Schlachtfest in die Länge ziehen wird.

Die Erzählungen der Flüchtlinge, die erst vor kurzem aus umkämpften Gebiet entkommen sind, fügen sich zu einem wiederkehrenden Muster. Sobald die Armee auf ein Dorf vorrückt, versucht der Dorfälteste den Kommandeur zu überreden, seinen Ort zu verschonen. Mit reichlich Wodka und frisch geschlachteten Lämmern wird die Einheit beköstigt. Danach beginnt das ernsthafte Gespräch über die Auslösesumme. Meist sind es zigtausende Dollar, die in die Kollekte wandern.

In Urus Martan, erzählt die Russin Tamara, hielt die ausgehandelte Waffenruhe nicht lange vor. Nach zwei Tagen eröffnete die Einheit das Artilleriefeuer. Der Kommandeur rechtfertigte sich, Rebellen seien nächtens in den Ort eingedrungen. Tamara, die mit einem Tschetschenen verheiratet ist, hält die „Geschichte mit den Rebellen“ für eine Ausrede.

Dennoch erhellt sie den Kern eines Problems, das Armee und Zivilbevölkerung auch in den schon eroberten Gebieten vor ungeheure Schwierigkeiten stellt. Es gibt keine klare Frontlinie in diesem Krieg. Überraschungserfolge der Rebellen in Argun und Gudermes vorletztes Wochenende haben das bewiesen. Mobile Freischärler-Kommandos sind jederzeit in der Lage, in besetzte Dörfer wieder einzudringen.

Leidtragende sind immer die Zivilisten. Denn auch die Rebellen zögern oft nicht, die Bevölkerung bewusst als lebende Schutzschilde zu missbrauchen. „Ziehen die Rebellen ab, rechnet die Armee daraufhin mit den Einwohnern ab“, bekennt Tamara, die sich für ihre Landsleute schämt.

Indes gibt es auch andere Berichte: Von Kommandeuren, die ihren Truppen das Marodieren ausdrücklich verboten haben und sich bemühen, die Bevölkerung vor Schaden zu bewahren. Im Krankenhaus in Galaschki, in den Bergen Inguschetiens, berichtet eine Patientin, dass ein Offizier in Goity in letzter Minute die Einwohner davor gewarnt habe, verseuchtes Wasser zu trinken.

Jedoch überwiegen die finsteren Ereignisse. Auch dort, wo die Armee bereits eine provisorische Verwaltung eingerichtet hat. Der neunjährige Ansor liegt im Krankenhaus in Slipzowsk mit Erfrierungen an den Beinen. Aus Angst vor der Willkür betrunkener Soldaten flüchtete er in einen eiskalten Fluss, wo er sich über eine Stunde versteckte. Sein Vater brachte ihn über Schleichwege von Assinowsky nach Inguschetien. Inzwischen hat die Armee die Kontrolle an der grünen Grenze weiter verstärkt. „Heute wüßte ich nicht mehr, wo ich meinen Jungen hinbringen könnte. Ich habe kein Geld, um die Posten zu schmieren“, sagt der Vater.

Wohl wegen der Rückschläge der Armee in den letzten Tagen versuchen Militärs und Geheimdienst, die Grenze noch dichter zu versiegeln. In den Bergen Inguschetiens wurden inzwischen an die 15.000 Soldaten zusätzlich stationiert, schätzt ein Mitarbeiter des inguschetischen Innenministeriums. In der Nachbarrepublik stößt die Präsenz des Militärs indes auf immer offenere Ablehnung. „Sie jagen uns absichtlich Angst ein und verhöhnen uns, dabei sind sie bei uns zu Gast“, meint Krankenschwester Sareta in Galaschki, während sie einem Patienten einen neuen Verband anlegt. Sie hat weniger zu tun, seit die Grenzkontrolle verschärft worden ist.

Wer indes keine Kosten scheut, findet immer einen Weg. Offizier Wassilili in Slipzowsk bietet einen einstündigen Kurztrip in die befreiten Gebiete im Norden für zweihundert Dollar an. Seit drei Monaten schiebt er in Inguschetien Dienst. Sein kaukasischer Kollege meint augenzwinkernd: „Er hat kräftig zugelegt.“

Das lässt sich von den bleichen und mageren Kindern in Sputnik nicht behaupten. „Sie haben das Lachen verlernt“, klagt Lehrerin Lydia Buttalowa, „mache ich einen Witz, reagiert keiner.“ Die Schüler sind in ihrer Entwicklung weit zurückgeblieben. Seit dem ersten Kaukasusfeldzug der Russen 1994 herrschen in Tschetschenien Krieg und Armut. Die meisten haben nie ein Buch zu Gesicht bekommen oder eigenes Spielzeug besessen. Daher hätten auch die Älteren nur ein Bedürfnis, meint die Lehrerin verständnisvoll: „Spielen und vergessen“.