Jenseits der Schiffahrtslinie

■ .... und Christa Estenfeld erhält den Förderpreis für ihr Buch „Die Menschenfresserin“

Das geht ja noch: Gerade mal 152 Seiten á 8,1cm x 14,3cm Blocksatz haben die Pupillen beim förderpreistragenden Erzählband zu durchpflügen. Doch am Ende hängen sie stiläugig-fiebernd aus dem Kopf heraus wie bei jener bedauernswerten Languste, deren Bearbeitung durch den Koch Christa Estenfeld schildert als sei's eine Horrorstory von Stephen King. Obwohl eher kleindimensioniert, sind die sechs Kurzgeschichten so vieltönend, dass sie sich jeder Beschreibung entziehen.

Allein schon die ersten Sätze: Mal enthalten sie wie ein Nucleus alles, was erst später entfaltet wird (“Obwohl ich auf der Insel allein lebe, fühle ich die Anwesenheit von Menschen.“), mal zirkeln sie den Handlungsraum ab: „Gegenüber befindet sich eine Apotheke, und hinter der Apotheke liegt das Meer“. Die Apotheke und dann das große, ewige Meer: kurz sind die Wege vom unspektakulären Detail zur gefühlsbeladenen Daseinsmethaper.

Am besten läßt sich diese Prosa ex negativo bestimmen: Kaum eine Rolle spielen die klassischen Literaturthemen Liebe, Beruf, Familie. Jede Seite strozt zwar vor psychischen Befindlichkeiten, niemals aber sind es diejenigen aus den daily soaps in Therapiestunde, Tresengesprächen oder TV: Eitelkeit, Eifersucht, Ehrgeiz, Einsamkeit, alles viel zu langweilig für Christa Estenfeld.

Eher schon geht es um unspektakulär Abseitiges: Etwa um die merkwürdige Beziehung eines Museumswärters zu der Briefleserin in einem Vermeerbild, um die Weltverlorenheit eines kleines Mädchens beim Adventsingen im Altenheim, oder, wenn schon trivialer Ehrgeiz, um den einer Insektenforscherin im kolumbianischen Dschungel ein paar Maden mit Nachtaktivitäten zu entdecken. Alles ist, wie jene Maden, potentiell symbolträchtig, aber nichts ganz zwingend und eindeutig. Alles wirkt fremd und seltsam: die deutsche winterliche Berglandschaft genauso wie ferne Tropeninseln jenseits der Schiffahrtslinie. Und eigentlich ist es ein und dasselbe, ob es sich bei den Helden nun um eine ganz normale kleinbürgerliche Familie beim Weihnachtsfest handelt oder um krasse Außenseiter, wie die Telefonterroristin oder die von Ohnmachtsanfällen gerüttelte Strahlenkranke, die als allerletzte Therapiemöglichkeit auf einer Insel ausgesetzt wurde.

Nicht selten ereignen sich ziemlich unschöne Dinge: eine Klumpfüßige wird im Aufzug zerquetscht, ein Forscher wird überfahren, Körper sind verschorft, es wird gekotzt und vergewaltigt. Doch es wäre falsch zu sagen: Das Grauen bricht herein. Denn Fiebriges, Irres, Ekliges und Surreales mischt sich mit allergrößter Selbstverständlichkeit in den Erzählstrom. Da haben wir zum Beispiel eine ganz normale Yuppiewerbeagentur und bei der Inventarauflistung erfahren wir, dass sich Sekretärin Sandra todmüde unterm Schreibtisch zusammenrollt; ganz als würden wir das alle tagtäglich an unserem Arbeitsplatz tun.

Zwar ist Christa Estenfelds Prosa sprunghafter, assoziativer und von noch mehr Geheimnissen, die sich dem Ehrzählstrang querstellen, durchzogen als die der letzten Förderpreisträgerin Elisabeth Herrmann. Ähnlich ist jedoch die surrealisierende Sogwirkung. Wer aus der Lektüre ins sogenannte Leben auftaucht, wundert sich schon mal, dass die Sonne ausgerechnet am Himmel steht und nicht sonstwo. Ausgezeichnet werden in Bremen also zum Glück systematisch Texte, die sich der alten Leier entziehen, diesem: Wir vergrübelte Deutsche müssen endlich auch pralle Geschichten aus dem wirklichen Leben erzählen. Müssen wir nicht! bk

„Die Menschenfresserin“ ist im Haffmans Verlag erschienen und kostet 28 Mark