Die doppelte Zeitordnung

Die wirrsten Grafiken der Welt (9): Grundlegendes für die Konstruktion der Berliner Kindheit und natürlich des Passagenwerks

Menschen, die genug Geld mitbringen, gibt das durchdachte Schema nach einiger Zeit noch ganz andere Geheimnisse preis

Man stelle sich einen Mann vor, der ausstudiert hat, auf der sicheren Seite ist, 5 ZKB sein eigen nennt, im Moratorium zwischen Tagesschau und „Tatort“ abends, rechtschaffen ermüdet, den Blick über die Regalwand wandern lässt und sich die Frage stellt: „Wie war das eigentlich noch gleich mit der doppelten Zeitordnung und der konstitutiven Spannung zwischen erinnerndem und erinnertem Ich in den Hauptwerken von Walter Benjamin und Marcel Proust? Muss ich das alles noch einmal nachlesen? Wäre es nicht netter, wenn ein Forscher daherkäme und mir die Antwort schematisiert servierte? In einer handlichen und übersichtlichen Grafik, die in den Zeitraum zwischen Wetterbericht und ,Tatort‘-Spirale passt?

Dem Mann kann geholfen werden. „Die für ,À la Recherche du temps perdu‘ konstitutive Spannung zwischen dem erinnernden und dem erinnerten Ich ist auch für die Konstruktion der ,Berliner Kindheit‘ und des Passagenwerks grundlegend“, schreibt der Forscher Willi Bolle in seinem Hauptwerk („Physiognomik der modernen Metropole. Geschichtsdarstellung bei Walter Benjamin“, Köln, Weimar und Wien 1994, S. 312). „Die doppelte Zeitordnung in den drei Werken lässt sich wie folgt schematisieren ...“

Bolles Schema hat es in sich. Es erspart einem ungefähr 12.000 Lektürestunden, denn man durchschaut sofort, was man sich sonst erst mühselig zusammenreimen müsste: Oben links steckt „das erinnerte Ich (die verlorene Zeit)“, unten in der Mitte sind die Jahre 1932–34 geblieben, und gleich rechts daneben findet sich „die zeitgeschichtliche Erfahrung 1923–1938“. Willi Bolle, das ist nicht zu übersehen, hat ganze Arbeit geleistet. Menschen aber, die genug Geld mitbringen, gibt das klug durchdachte Schema nach einiger Zeit noch ganz andere Geheimnisse preis. Wo zum Beispiel ist „das erinnernde Ich (die Suche)“ verborgen?

Kleiner Tip: Sehen Sie mal unten links nach. Warm – wärmer – heiß, heiß, heiß ...

Gerhard Henschel