: Die unglücklichen Frauen von Sochaux
Erstaufführung: Lars Wernecke inszeniert die „Sechs Welten“ im Renaissance-Theater
Theatermonologe sind schamlos. Sie erfinden die totale Intimität und behaupten doch, nur Spiel zu sein. Das Publikum wird zur dunkleren Hälfte des Beichtstuhls, zum Therapeuten, zu Geschworenen. Oder es repräsentiert einfach nur die Gesellschaft, gegen die ein Einzelner einsam klagt und wütet. Mit Trost und Kontra rechnet er nicht. Deshalb liegt Hysterie in der Luft.
Philippe Minyana, ein in Frankreich oft gespielter, auch verfilmter und in Deutschland noch zu entdeckender Theaterautor, hat sechs Monologe zu einem Bühnenstück verkettet: „Chambres“. Unter dem Titel „Sechs Welten“ inszeniert der Regisseur Lars Wernecke die deutsche Erstaufführung auf der Studio-Bühne des Renaissance-Theaters; eine kleine, schlichte Produktion, die sich ganz auf die Darstellerinnen konzentriert.
Sechs junge Frauen aus der Kleinstadt Sochaux, ganz normale Töchter und Mütter, Arbeitslose und Angestellte, erzählen nacheinander und ohne Bezug aufeinander aus ihrem Leben. Den fiktiven Schicksalen liegen tägliche Realdramen zugrunde. Aus der Anonymität des „Vermischten“, aus den knallenden Schicksalsschlagzeilen lokaler Skandale rekonstruiert Minyana die Physiognomien der Täterinnen und Opfer. Ein Kunststück, dabei nicht in Betroffenheit heischenden Kitsch abzugleiten. Anstelle linearer Protokolle legt der Franzose seinen Protagonistinnen assoziierte Gedankenfetzen wie Oblaten auf die Zunge. Und was meist als unprätentiöse Plauderei, derb und komisch beginnt, steigert sich zur hochreflektierten Poesie der Zerrissenheit. Dicke kommt es allemal, und der Grat zwischen plakativer Sozialschnulze und einfühlsamer Psychostudie ist bei Minyana tatsächlich schmal.
Arlette und Suzelle (Nele Müller-Stöfen), Elisabeth und Latifa (Anna Boettcher) sind im Schatten des gleichen Peugeot-Werks aufgewachsen. Doch während die „Kindsmörderin“ Arlette selbst noch ein halbes Kind ist, ein verzweifelt aufgekratztes, dem man eine kühle Hand auf die Stirn wünscht, wirkt die ätherische Suzelle im Rollstuhl so bitter wissend-abgeklärt, dass es einem kalt über den Rücken läuft. Unter dem Panzer naiver Oberflächlichkeit revoltiert die angehende „Miss Sochaux“ gegen ihre Mutter, die Selbstmord beging, während Latifa, eine stolze, moderne Mänade, tobend ihr Recht einfordert und ihre unsichtbaren Gegner in der Luft zerfetzt.
Die Spannungen und Brüche zwischen ihren Rollen kosten Müller-Stöfen und Boettcher spürbar aus, jeder Monolog erzählt eine eigene Körpergeschichte, entfaltet eine mimische und stimmliche Landkarte, auf der das Publikum sich auch jenseits des Textes zurechtfände. Birge Schade, der Dritten im Bunde, gelingt das weniger. Die burschikose Kos auf der Suche nach der Leiche ihres Bruders und die sexuell missbrauchte Tita gehen in die Falle raunender Schauspielschulenkunst. Da wird das Frauenunglück von Sochaux auf einmal zäh, und für sechs beklemmende Welten hängt die Decke des Renaissance-Studios einfach zu niedrig. Eva Behrendt
Weitere Aufführungen: 27. bis 29. 1. um 20 Uhr, 30. 1. um 18 Uhr im Studio des Renaissance-Theaters, Knesebeckstr. 3
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