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Piblotoq, Pa-leng, Ufufuyane ■ von Kathrin Passig
Während man hierzulande an Angst vor Spinnen erkranken kann, am Zwang, Servietten zu beschriften und vielleicht gerade mal noch an der Unfähigkeit, Dortmund zu verlassen, haben andere Länder wie üblich die schnittigeren, exotischen Wahnvorstellungen für sich gepachtet. Unter der Rubrik „Kulturspezifische Störungen“ führt die WHO in ihrem internationalen Klassifikationssystem so wunderliche Krankheiten wie die „arktische Hysterie“ Pibloktoq der Inuit auf, deren Symptome Herunterreißen der Kleidung, Rollen im Schnee, wirre Reden, Zerstörung von Eigentum und Koprophagie sind.
Offenbar genügt es nicht, einfach Sachen kaputtzuschlagen, es muß sich schon explizit um Eigentum handeln. Andererseits gehören die paar Dinge, die in der Arktis herumstehen, vermutlich wirklich alle irgendwem. Nach wenigen Minuten ist jedenfalls alles vorbei und der Eskimo gibt sich wieder seinem Alltag hin, der wohl nicht wesentlich weniger rätselhaft ist als seine Anfälle.
In Südostasien grassiert die Frigophobie Pa-leng, eine ausgeprägte Angst vor Kälte und Wind, in denen man die Verursacher von Müdigkeit, Impotenz oder Tod vermutet. Die Betroffenen tragen zwanghaft schwere und übermäßige Kleidung. In Südwestasien dagegen fürchtet man Koro, das Zurückziehen der Genitalien ins Körperinnere; als auslösende Faktoren werden Krankheit, Kälte und exzessiver Koitus genannt.
Die Behandlung besteht aus „Festhalten der Genitalien durch die Betroffenen oder ein Familienmitglied, Anbringung von Schienen oder Geräten zur Verhinderung der Retraktion, Massage und Fellatio“, auf Krankenschein womöglich. In Mexiko stellen sich chronische Beschwerden verschiedenster Art, Susto, ein, wenn ein entfernter Verwandter heftig erschrickt. Junge, unverheiratete Frauen der Bantu und Zulu brechen beim Anblick von Männern oder Fremden in Schreien und Schluchzen aus, erleiden Lähmungen und Krämpfe, Alpträume mit sexuellen Inhalten oder erblinden vorübergehend.
Bislang mußten wir zu diesem Phänomen „Hysterie beim Besuch von Boygroup-Konzerten“ sagen, aber die offizielle Bezeichnung „Ufufuyane“ ist doch handlicher. Massive therapeutische Intervention ist beim Windigo der nordamerikanischen Ureinwohner nötig, zu dessen Symptomen der wahnhafte Wunsch zählt, Menschenfleisch zu essen: Man ächtet die Betroffenen und bringt sie um.
Spektakuläre Krankheitsbilder allenthalben, nur die Deutschen sind gerade dabei, den internationalen Anschluß auf dem Markt der neurotischen Zustände zu verpassen. Es besteht dringender Zwangshandlungsbedarf: Was ist mit der Angst, vom Ende der Rolltreppe erfaßt und eingezogen zu werden, der man mit dem Tragen von Turnschuhen, die wie Waschmaschinen aussehen, begegnet? Sie bleibt so namenlos wie das Peinigen des Lebensgefährten mit Wasdenkstdu- und Hörmirdochmalzu-Gejammer (Prodromalsymptom: Umarrangieren von Eigentum nach Feng-Shui-Vorschriften), ausgelöst durch die Angst, in Wirklichkeit ein entichtes Gemüse zu sein, das auf einer Fensterbank vergammelt. Auch hier empfiehlt sich übrigens als Behandlung das Festhalten der Genitalien durch ein Familienmitglied, glaube ich.
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