: Aufbruch in das Tal der Tränen
Gerade heute 100 Jahre alt geworden, droht dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) derrapide Machtverlust und eine Zukunft als „Nachtwächterverband“ ■ Von Rainer Schäfer
Artig sind die Glückwunschadressen in der Verbands-Bibel „100 Jahre DFB“ ausgefallen, wenn auch verhalten optimistisch. Joseph S. Blatter psalmt: „Als Präsident der Fifa zweifle ich keinen Moment daran, dass wir auch die nächsten 100 Jahre auf das loyale und engagierte Mitglied DFB bauen können.“ Und Lennart Johansson, Präsident der Uefa, will im sachten Bauchpinseln nicht zurückstehen: „Selbstverständlich ist kein Fußballverband der Welt auf Erfolg abonniert, doch auf Grund seines Potenzials wird der DFB auch im kommenden Jahrhundert immer wieder die Früchte seiner hervorragenden Arbeit ernten können.“
Die Etikette dominiert: Die Förmlichkeit und Steifheit, mit denen der Deutsche Fußball-Bund heute seinen Ehrentag in der Gründungsstadt Leipzig begeht, lässt etwas im Ungewissen, ob es sich um einen Freuden- oder Trauerakt handelt. Wird gratuliert oder kondoliert? Beides: Zu den ersten 100 Jahren, in denen sich der DFB zum mächtigsten Sportverband erhob, zu den kommenden 100, in denen schon jetzt schwindende Stärke abzusehen ist.
Wie ein alternder, im Fortschreiten gehandicapter Patriarch beginnt der DFB mühsam sein zweites Jahrhundert: Seine pubertierenden Kinder laufen weg. Die Fußball-Bundesliga hat ihm in der Vermarktung der Fernsehrechte, dem seit 1965 wichtigsten Macht- und Steuerungsinstrument des Verbandes, das Vertrauen entzogen. Die Clubs wollen nach dem nächsten TV-Vertrag, der bis 2003 laufen soll, einen eigenen Sender organisieren. Falls die EU-Kommission in Brüssel, wie erwartet, dem DFB nicht schon vorher das Recht auf die Zentralvermarktung der Fernsehrechte abspricht.
Wichtige Entscheidungen im Fußball werden immer häufiger von nationalen und vor allem europäischen Gerichtshöfen gefällt, nicht mehr in der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise. „Es darf nicht sein“, protestiert DFB-Vizepräsident Gerhard Mayer-Vorfelder, „dass der DFB zum Goethe-Institut des Fußballs wird, das für den kulturellen Überbau des Sports zuständig ist, und wirtschaftliche Belange regelt die EU.“
Der gewiefte Machtkalkulator wird als Nachfolger von Präsident Egidius Braun gehandelt, der im kommenden Jahr abtreten will – nicht ohne vorher, monoton altersredundant, den Tod des „Volkssports Fußball durch dessen hemmungslose Kommerzialsiierung“ zu beweinen. Was nicht mehr als moralischen Fingerzeigen gleichkommt, hieß der Verband doch den entscheidenden Entwicklungsschub dahin, Ende der 80er-Jahre durch die TV-Millionen der Privatsender RTL und Sat. 1, gut. Auch die gleichsam bunte wie banale Präsentation des TV-Sports gefiel dem DFB, solange er sie als Werbung für das Produkt Fußball in seinem Sinne interpretieren konnte und davon zu profitieren meinte.
Heute muss der DFB Hand anlegen, den Fußball der Dynamik wirtschaftlicher Totalverwertung zu unterwerfen. Er ist zum Geldboten, zum Erfüllungsgehilfen seiner Clubs geworden, die wie ihre europäischen Nachbarn an die großen Finanzströme im TV-Fußball-Kapitalismus angeschlossen werden wollen. Zur kommenden Saison werden alle Bundesliga-Spiele live im Bezahlfernsehen zu sehen sein, weil, so Mayer-Vorfelder, „im Free-TV eine Übersättigung mit Livespielen“ eingetreten sei. Eine eigenwillige Formulierung dafür, dass der DFB sich dem Druck der Liga beugen musste, die vom Pay-TV eine Steigerung der Fernsehgelder von derzeit 330 Millionen Mark auf bis zu 800 Millionen erwarten – selbst verbandsloyale Funktionäre hatten zuletzt am Taschenrechner nachgerade revolutionären Eifer entwickelt. „Wenn der DFB zum Nachtwächterverband wird, der nur noch im Amateurbereich etwas zu sagen hat, dann ohne mich“, verkündet Mayer-Vorfelder scheinbar faktenresistent. Falls er den DFB nicht anführen will, kommt dann doch der Beckenbauer Franz oder am Ende gar Paul Breitner?
Immerhin, dem DFB bleibt mehr als nur der Amateurfußball: das Hoffen auf eine erfolgreiche Bewerbung für die Ausrichtung der WM 2006, die einen kurzen Zwischenstopp im allgemeinen Niedergang bewirken könnte. Oder das hohe Schiedsrichterwesen, die Termingestaltung der Liga und natürlich die Nationalmannschaft, die laut Berti Vogts „immer des Deutschen liebstes Kind sein wird“, auch wenn der DFB die Clubs bald dafür bezahlen muss, dass sich ihre Stars im Adler-Look aufzeigen lassen müssen, dass sie den Anschluss an die Fußball-Moderne verpasst haben.
Donquichottesk wird Egidius Braun am Leipziger Büffet davor warnen, dass der Volkssport nicht vom Kapital bestimmt sein dürfe. Und damit unbewusst ein wenig träneln über die wachsende Bedeutungslosigkeit seines DFB, der in 100 Jahren die überschaubare gesellschaftspolitische Relevanz von Zusammenschlüssen wie der Deutschen Kriegsgräberfürsorge oder dem Verein Deutscher Rassehunde haben dürfte.
DFB-Pressechef Wolfgang Niersbach muss kurzfristig geahnt haben, wie es wirklich steht um den Verband, als er in „100 Jahre DFB“ voraussagte: „DFB – dieses Kürzel soll im zweiten Jahrhundert seines Bestehens Synonym sein für Titel, Tränen und Triumphe.“ Vor Triumphen kommen Tränen. Der DFB muss weinen, 100 Jahre lang. Und Titel? Es bleibt nur eine Möglichkeit für den DFB, ein weiteres Jahrhundert der Blüte und des Flusses einzuleiten: die Umbenennung in Deutscher Tränen-Bund.
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