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Jazz im Tempel

Vom Aufsteiger zur Integrationsfigur: Wynton Marsalis swingt ins 21. Jahrhundert, begleitet von Ehrungen und einer Veröffentlichungsoffensive. Sein Jazz zur Zeit hat die Domänen der Hochkultur erobert ■ Von Christian Broecking

Die Posaune wettert Dschungelbuch-like, die Geige winselt süß und bitter, der Trompeter tönt arrogant. In einer der aktuellen Kompositionen von Wynton Marsalis wird Strawinsky adaptiert, aus „L’Histoire du Soldat“ wurde „A Fiddler’s Tale“ und ein weiterer Versuch, Jazz und Klassik zusammenzubringen. Das Libretto von Stanley Crouch hält Worte bereit für das, was die Noten sagen sollen. Das Klischee, unterschiedlichen Sounds menschliche Rollen und Charaktere zuzuordnen, wird geschickt bemüht. Diese Musik klingt nicht neu, aber klar und auf eine beruhigende Weise vertraut, Marsalis’ Kompositionen sind aus Überzeugung vor allem eines: antiexperimentell.

„Swinging Into The 21st Century“ heißt die aktuelle 8-CD-Serie des erfolgreichsten und umstrittensten amerikanischen Jazz-Musikers der letzten zwanzig Jahre, die neben Bigband-Aufnahmen auch Auftragskompositionen für klassisches Streichquartett und Kammerensemble enthält. Im Frühjahr schließt sich die Veröffentlichung einer 7-CD-Box mit Konzertmitschnitten des Wynton-Marsalis-Septetts von Anfang der Neunzigerjahre an, das einst die neotraditionalistische Revolution im New Yorker Jazz symbolisierte. Anfang dieses Monats kehrte Marsalis nach sechs Jahren noch einmal in den New Yorker Club zurück, der ihn groß gemacht hat: Das Village Vanguard eröffnete mit einer Wynton-Marsalis-Woche. Die New York Times titelte „Welcome Home“ und nannte seine Wiederaufbereitung der Kompositionen eines Duke Ellington und Thelonious Monk „stilprägend“. Auch wenn diese Aufnahmen zum Teil nicht mehr so ganz frisch sind, ihre Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt ist tatsächlich weit mehr als die bloße Sichtung des Archivbestandes.

Mit Swing rein in den Kanon der Hochkultur

Sie als Restposten zu bezeichnen wäre unfair, sie als Meisterleistungen zu dekorieren übertrieben. Diese im Jazz unvergleichliche – und in ihrer Dichte und Eile allen Marktgesetzen spottende – Veröffentlichungswelle dokumentiert vielmehr den State of the Art im Wirken eines Jazz-Künstlers, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Jazz nicht nur in den Konzertsälen aufzuführen, die sonst der abendländischen Klassik vorbehalten waren, sondern ihn auch kompositorisch in den Kanon der Hochkultur zu integrieren. Das Swing-Feeling ist der Spirit, der seine sehr unterschiedlichen Kompositionen eint.

Titel wie „Blue Lights on the Bayou“ aus Wynton Marsalis’ erstem Streichquartett „At the Octoroon Balls“ und „Tango, Waltz, Ragtime“ aus seiner kammermusikalischen Komposition „A Fiddler’s Tale“ sollen eine erste Umsetzung der von Marsalis in jüngster Zeit wiederholt geforderten Rückbesinnung auf tanzorientierte Musik demonstrieren, zugleich eine Wiederentdeckung der Romantik. Kein Gekreische, kein Gequietsche mehr. Doch die klassisch ausgebildeten Musiker tun sich mit dem von Marsalis komponierten Jazz noch schwer, mühen sich hörbar ab. Widerspruch klingt an, als ob der Jazz sich für die strengen Formengesetze des klassischen Kanons doch nicht so recht eigne.

Als Wynton Marsalis vor zwanzig Jahren in die Jazz-Metropole zog, waren es besonders New Yorker Musiker und Kritiker, die dem jungen Trompeter aus New Orleans seine neokonservative Redefinition des alten Jazz streitig machen wollten. Doch Marsalis konterte wortgewaltig von Anbeginn. In jüngster Zeit scheint dieser Streit um Macht und Definitionsgewalt, der Mitte der Neunzigerjahre zeitweilig in einen verbalen Jazz-Krieg entgleiste, zugunsten des 38-jährigen Trompeters und Jazz-Orchesterleiters verstummt zu sein. Vehemente Kritiker wie der Trompeter Lester Bowie verstarben, andere, wie Klarinettist Don Byron und Altsaxofonist Steve Coleman – beide lassen sich gern als Hoffnungsträger des schwarzen Avantgarde-Jazz feiern –, relativierten ihre zunächst unversöhnlichen Haltungen, erkannten auf einmal gemeinsame Interessen und verständigten sich jüngst erst darauf, Wynton Marsalis die Ehrbarkeit seines Tuns zu bescheinigen: Er handle nicht aus kommerziellem Kalkül, sondern aus konservativer Überzeugung.

Allein der mehrfache Grammy-Gewinner, ausgezeichnet auch als klassischer Interpret, Gründer und künstlerischer Leiter der mit zwölf Millionen Dollar Jahresetat luxuriös ausgestatteten Jazz-Institution am New Yorker Lincoln Center, scheint dieser Ruhe nicht ganz zu trauen. Er liebt die Auseinandersetzung als Mittel des kreativen Prozesses, ganz so, als fehlten ihm sonst Input und Muße.

Swing war für ihn die amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts, „Black Music“ lediglich eine segregierte Variante des Themas. Marsalis hat sich in zahlreichen Interviews in jüngster Zeit viel über einen – in seinen möglichen Wirkungen und Folgen allerdings noch unabsehbaren – Prozess der künstlerischen Integration geäußert. Ein Blick auf seine eigenen Produktionen der letzten zehn Jahre macht deutlich, dass seine stärksten Momente als Komponist allein im Rekurs auf den alten Jazz liegen. Jener Jazz, der nach New Orleans, nach afroamerikanischer Kirche und Küche klingt. Die CDs „Mr. Jelly Lord“, „Marsalis Plays Monk“ und „ReelFtime“ sind aktuelle Belege dafür.

Was Anfang der Neunzigerjahre von vielen Kritikern und Beobachtern als Werbemaßnahme für Armani-Anzüge gründlich missverstanden worden war, entpuppte sich sehr bald als Nachhilfestunde in afroamerikanischer Kulturgeschichte. Auch der schwarze Landarbeiter macht sich für den Kirchgang fein, so Marsalis, ein sauberer Anzug vermittle Würde und Nächstenliebe.

Weder revolutionär noch marktkonform

Mittlerweile hat der Jazz endgültig die Tempel der Hochkultur erobert. Kurt Masur dirigiert Wynton Marsalis, Daniel Barenboim lädt den Maestro des Jazz nach Chicago ein. In den großen Konzerthäusern interessiert man sich inzwischen dafür, was Marsalis tut und sagt. Auch wenn er nur eine klitzekleine Probebühne des großen klassischen Kanons besetzt, er weiß den Jazz in die abonnierten Programmreihen zu hieven. In etwa drei Jahren wird Marsalis seine eigene Konzerthalle haben, die Vorgespräche dafür laufen auf Hochtouren. Sie wird in Midtown Manhattan gelegen und die erste Halle sein, in der nur Jazz gespielt werden wird. Zur Promotion, Programmierung, Nutzung und Auslastung dieser Location steht Marsalis die Lincoln-Center-Struktur zur Verfügung.

Diese Macht schmeckt bittersüß, so spät wurde sie errungen. Historisch gesehen durften schwarze Entertainer bestenfalls mal an ihr schnuppern, eher wurden sie ausbezahlt. Die Kontrolle über ihre Produkte, Distributions- und Definitionsgewalt blieben lange Zeit Tabubezirke für das Black Business. Als Wynton Marsalis vor zwanzig Jahren nach New York aufbrach, traf er auf einen, der sich auskannte mit den Strukturen der Macht. Der Kritiker und Trommler Stanley Crouch war gerade dabei, sich über das Entraten von spürbarer Wirksamkeit zu wundern. Seinen damaligen Zögling, den Saxofonisten David Murray, hatte er zwar zum New Star der wichtigen New Yorker Szene aufgebaut, aber irgendwas war ausgeblieben. Alles schien auf einmal zu sehr verstrickt mit dem Krach der Improvisation, den Kunststückchen des Nachwuchses, der fortgesetzten Suche und Sucht nach dem nächsten John-Coltrane-Ersatz. „Sie können gar keinen Jazz spielen“, befand Crouch, „sie konnten es nie.“ Die afroamerikanischen Schriftsteller Ralph Ellison und Albert Murray hatten ihm allerhand derbe Ansichten an die Hand gegeben, die bewirkten, dass seine Liner Notes zu den meisten Marsalis-Platten kleinen Kampfschriften ähneln, in denen es nur einen Sieger gibt.

Doch ein Problem wurde immer wieder aufgeschoben: die Sache mit der Avantgarde, dem Ziehkind der europäisch orientierten Jazz-Kritik. Marsalis will sich nicht dem Zwang aussetzen, neue Formen entdecken zu müssen. Ebenso verweigert er sich der überlieferten Losung, schwarze Künstler müssten ständig etwas Neues erfinden, weil schwarze Haltung, Gesang und Musik von den Weißen kopiert und entschärft würden. Marsalis will weder revolutionär noch marktkonform sein müssen, er lehnt die „Selbstghettoisierung“ afroamerikanischer Künstler ab: die Jazz-Avantgarde habe bloß vorgeführt, wie man sein Publikum verliert.

Bewahrende Pflege desschwarzen Kulturerbes

Auch der afroamerikanische Dichter und Kulturkritiker Amiri Baraka – in den Sechzigerjahren selbst ein wichtiger Fürsprecher der schwarzen Avantgarde – sieht heute in dem Wirken von Wynton Marsalis eine „progressive Tat“, die die afroamerikanische Kultur vor dem Vergessen bewahre: „Die Musik von Count Basie, Duke Ellington und Jelly Roll Morton, Louis Armstrong, Billie Holiday und Fletcher Henderson – das ist unsere Klassik. Und es muss einen Platz geben, wo diese gepflegt wird. Aber wenn man Mozart und Bach pflegt, muss man doch nicht Stockhausen und Webern verteufeln, oder? Wir brauchen die Musik von Ellington und den alten Meistern – sie muss aufgeführt werden. Es gibt keine Avantgarde – kein Maß für das Neue, wenn wir nicht die historischen Fixpunkte benennen.“

Marsalis hat den Weg zurück zum Swing, zum Bestaunen und Bewahren afroamerikanischer Kulturkompetenz, gut geebnet. Was die Kritiker angeht – die ihm neben einer begrenzten musikalischen Perspektive auch allerhand außermusikalische Eigennützlichkeiten andichteten – er hat ihnen mit jeder Platte und großer Autorität Recht gegeben. Da ist die Luft erst mal raus.

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