„Aber das Wort ,Deutscher‘hat uns mit Angst erfüllt“

■ Weder mit Bitterkeit noch mit Hass: Nobelpreisträger Elie Wiesel erinnert am Jahrestag des Holocaust vor dem Bundestag an Schuld und Verantwortung der Deutschen. Wir dokumentieren die wichtigsten Passagen seiner Rede

„Vor etwa 60 Jahren, genau in dieser Metropole, in der wir hier sind, in dieser Stadt, wurde dieser Mensch, der ich bin, und seine Gemeinschaft, sie wurden zur Isolation, zum Leid, zur Verzweiflung und zum Tode verurteilt. Und doch, ich hoffe, dass Sie mir glauben: Ich bin ein Zeuge, und ich spreche zu Ihnen heute weder mit Bitterkeit noch mit Hass [...].

Als ich in diesen Saal trat, habe ich mein Gedächtnis und meine Erinnerung nicht hinter mir gelassen. Denn gerade hier, weil Sie hier sind, sind diese Erinnerungen lebhafter denn je zuvor [...]. Seit meiner eigenen Befreiung, und das war am 11. April 1945, habe ich alles gelesen, was in Reichweite kam, um die Implikationen zu verstehen, was damals geschah [...]: Die Nürnberger Gesetze, die antijüdischen Erlasse, die Kristallnacht, die öffentlichen Demütigungen stolzer jüdischer Bürger, auch solche, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, die ersten Konzentrationslager, die Euthanasie, die Wannseekonferenz [...] Dachau, Auschwitz, Majdanek, Sobibor – das waren die Hauptstädte dieses Jahrhunderts [...].

Wie konnten solche klugen, jungen Menschen, die exzellente Erziehung aus den besten Familien und Diplome von den besten Universitäten Deutschlands hatten, wie konnten sie es zulassen, dass sie so vom Übel verführt wurden, dass sie den Genius einsetzten auf Quälen und Töten von jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die sie noch nie gesehen hatten [...].

Mein Volk hat unendlich viele Feinde gehabt [...], aber niemand hat uns so tief verletzt wie Hitlers Deutschland [...]. Wir haben viele Formen der Isolierung erlebt, wir haben Kreuzzüge, Inquisition, Pogrome überlebt, die verschiedensten Arten von tief eingewurzeltem Antisemitismus, aber der Holocaust ging viel weiter. Kein Volk, keine Ideologie, kein System hat je solche Brutalität, Leiden und Demütigung in solcher Größenordnung irgendeinem Volk auferlegt, wie Ihr Volk es meinem in solcher kurzen Zeit angetan hat. Es gab Deutsche, die nicht mitgemacht haben, und wir müssen uns an sie erinnern. Es gab solche, die Mut hatten [...]. Aber es waren nur wenige und noch weniger, die ihre jüdischen Freunde und Nachbarn retten wollten [...]. Man sagt heute, dass es die Nazis waren, die die Verbrechen begingen, nicht die Deutschen. Nun – gibt es denn zwei Parallelgeschichten Deutschlands? [...] Natürlich, nicht alle Deutschen waren Nazis, ich als Zeuge kann es Ihnen sagen. Aber das Wort ,Deutscher‘ hat uns mit Angst erfüllt, und wir hatten Angst vor ihrem Kommen [...]. Diese Akte, Juden zu töten, sind zwar oben befohlen, aber unten ausgeführt worden. Für uns, die Opfer, war es Deutschland. Die Gaskammern waren deutsch [...].

Bis zum Ende der Zeiten wird Auschwitz ein Teil Ihrer Geschichte bleiben, wie es Teil meiner Geschichte sein wird [...]. Ich glaube nicht an die Kollektivschuld, nur die Schuldigen sind schuldig [...]. Die Kinder von denen, die töten, sind keine Mörder, sondern Kinder [...]. Und das, was sie tun, um wieder gutzumachen, ihr Land, ihre Menschen, das ist außergewöhnlich [...]. Dieser 27. Januar ist nun zum Gedenktag geworden, ich würde sagen, es ist der nationale Holocaust-Gedenktag für Sie geworden, das ist ein Beschluss, der Sie ehrt [...].

Sie gehören heute zur Familie der Völker, und Sie haben beschlossen, den jüdischen Opfern zu helfen, aber auch allen anderen [...]. Aber ich glaube, die Zeit ist auch gekommen, dass Sie eine Geste machen sollten, die weltweit einen Widerhall finden würde. Herr Präsident Rau, Sie haben ja vor 14 Tagen mit Auschwitz-Überlebenden gesprochen, und einer von ihnen berichtete mir, dass Sie dann das ausgedrückt haben, nämlich etwas, was Sie sehr bewegt hat: Sie haben um Verzeihung gebeten für das, was das deutsche Volk ihnen, den Opfern, angetan hat.

Warum können Sie es nicht hier tun im Geiste dieser feierlichen Gelegenheit? Warum kann es nicht der Bundestag bekannt geben [...] und sagen, dass Sie das jüdische Volk um Verzeihung bitten, in Deutschlands Namen. Sagen Sie es, tun Sie es, es wird einen außerordentlichen Widerhall in der Welt finden. Tun Sie es, und die Bedeutung dieses Tages wird dann eine höhere Dimension gewinnen. Tun Sie es, und die Welt wird wissen, dass das Vertrauen in Deutschland berechtigt ist [...].“ Textdokumentation: dpa

Berichte Seite 5 und 7, Kommentar Seite 12