Strudel der Peinlichkeiten

In Alt-Kreumel regieren Geld und Irrsinn: Henning Bock inszeniert im Altonaer Theater Oliver Bukowskis „Gäste“  ■ Von Liv Heidbüchel

Dörfler zu sein, ist ein trauriges Los. Zumal wenn man von der Gunst des Städters abhängig ist. Der erwartet nämlich bei einem nostalgischen Abstecher aufs Land die Erfüllung seiner Träume vom ruralen Tourismus: Folklore, zünftige Freundlichkeit und das pralle Leben inmitten von Gülle und frisch gespültem Schweinedarm. Dafür lässt sich der Gast aber auch nicht lumpen. Und für Geld bringt man ja gern ein oder zwei Opfer – und seien es Frau und Ehe.

Abhängigkeit von Anerkennung, die jedwede Kontrolle über Respekt sich selbst und anderen gegenüber ausschaltet, ist das Thema von Oliver Bukowskis jüngstem Stück Gäste, das Henning Bock auf der großen Bühne des Altonaer Theaters nun als Hamburger Erstaufführung inszenierte. Von dort blickt man in eine neblig-verhangene Einöde, genauer: Alt-Kreumel. Diese Aussicht ist so frustrierend, dass man sich ob der Gesinnung der Dörfler kaum wundern muss. Solitärer Lichtblick ist das neu eröffnete Hotel des Ehepaars Erich (Ulrich Bähnk) und Kathrin (Susanne Schäfer). In diesem umgebauten Saustall drängelt sich nunmehr die Hoffnung auf bessere Zeiten.

Doch der Mief der Vergangenheit lässt sich auch durch das just dem Zellophan entrissene Fichteninterieur vom Möbelgrossisten schwerlich überdecken (Bühne: Hans Winkler) – allein das desperate Wünschen ist zu heftig, das verkrampfte Wollen so perfekt, dass am Ende nichts stimmt. Denn selbst der Plural im Titel des Stücks ist noch ein Euphemismus. Bis nach Wochen ein einziger Gast (Alexander Muheim) den Weg ins Hotel findet, hat sich Erich mit dem Arrangieren des Trios Salzstreuer/Pfefferstreuer/Speisekarte bereits gründlich den Verstand zermürbt. Doch ebenso Trittbrettfahrer wie Pseudo-Ökobauer Treitschke (Dietrich Trapp), Metzger Hagedorn (Frank Meyer-Brockmann) oder die altjüngferliche Frau Stoklosa (großartig: Hannelore Droege) entblättern nun ihr Irrsinnspotential.

So wird denn der Gast mit Liebesbezeugungen überhäuft, dass einem die Schamesröte ins Gesicht schießt. Diese Szenen, in denen sich das neunköpfige Ensemble dem Wahnsinn in die Arme spielt, gehören zu den temporeichsten der Inszenierung: die Kollektivsucht der Dorfbewohner, durch den Gast Anschluss ans Weltgeschehen zu finden, treibt sie immer energischer in den Strudel der Peinlichkeiten. Schon bald genießt der Gast sichtlich die Vorteile des Hofiertwerdens. Bis zur Selbstaufgabe treibt es dabei Hotelier Erich: Bähnk verleiht dieser hilflosen, in verschwitzter Nervosität gefangenen Figur mit einem unsicheren, speichelgetränkten Auflachen überzeugenden Ausdruck.

Gleichermaßen mitreißend spielt Schäfer die Kathrin, deren anfängliches Glücksgefühl angesichts des verheißungsvollen Gas-tes schon bald an der Realität zerplatzt: Den geforderten servilen Service kann sie nicht bieten, und ihr Kampf um Erich und dessen Würde erweist sich als aussichtslos. Ihr Freitod ist die einzige selbstbestimmte Tat überhaupt, seit der Gast mit seinem Geld in Alt-Kreumel regiert.

In dieser Tragödie, in der die Entwicklung unaufhaltsam auf den Eklat zuschreitet, wirken allerdings die umständlichen Szenenwechsel einigermaßen hemmend: Wie Schatten eines bedächtigen Scherenschnitts bauen die Darsteller vor kobaltblauem Hintergrund oft so lange die Bühne um, bis man sich von ihrem eindringlichen Spiel distanziert hat. Die vermeintlich die Stimmungslage offenbarende Begleitmusik tut Ihriges, nämlich ablenken. Hier verspielt die Inszenierung leider die Intensität, die das Thema und die schauspielerische Leistung gebieten.

noch bis zum 18. März, Altonaer Theater