: Clochard, Knacki
■ Das Theater N.N. zeigte in Bremen-St.Pauli die wahren Gesichter Franz Schuberts
Als Entgelt dafür, dass seine Freunde ihm seinen Unterhalt besorgten, spielte er ihnen auf: So hat Franz Schubert selbst zu der Legende von den gemütlichen und lustigen „Schubertiaden“ im Freundeskreis beigetragen. Wie es wirklich in ihm aussah, versuchten seit 1997, dem 200. Geburtsjahr des großen Antipoden Ludwig van Beethovens, nicht nur Musikwissenschaftler zu erkunden, sondern auch Filmemacher und Romanautoren. Darüber hinaus gab es eine Menge szenische Darstellungen. Eine der Stärksten war die Filmtriologie „Mit meinen heißen Tränen“ mit Udo Samel als Schubert. Michael Stegemann hat aufgrund Original-Quellen einen fiktiven Roman mit dem Titel „Ich bin zu Ende mit allen Träumen“ geschrieben.
„Schubert & Franz“, eine Produktion des Theaters N.N. in Hamburg, die jetzt in der Kirche St. Pauli zu hören und zu sehen war, geht von Stegemanns Buch aus, lässt Schubert sozusagen auf sich selbst treffen. Der Regisseur Dieter Seidel konfrontiert mit dem Pianisten Bernhard Röser und dem Schauspieler Andreas Schäfer Schuberts bis zur Marionettenhaftigkeit funktionierendes Außenleben mit seinem verzweifelten Inneren und stößt weit vor in die politischen Verhältnisse von Metternichs Diktatur: Über ein Viertel der Bevölkerung waren damals Spitzel. Die beiden besprechen sozusagen die Welt, und immer wieder drängen die Lieder aus Schubert. Viele sind es noch vor dem offiziellen op. 1, dem „Erlkönig“: immer noch Strophenlieder, aber welche Texte! Und welche musikalischen Lösungen! Wie das „Grablied auf einen Soldaten“ von Schubert, der später auf dem Hohenasperg eingesperrt wurde. Röser hat eine geradezu geniale Art, die kleinen harmonischen Feinheiten wie den Einsatz von Dur – vornehmlich auf Tod – oder auch Trugschlüsse – zum Beispiel auf „Natur“ – so zu betonen, dass dem Hörer etliche Lichter aufgehen.
Eingebettet sind die Lieder in das clochardartige Elend des jungen Schubert, der als 17-Jähriger eine Messe dirigiert. Und alle sind da: sein Vater, sein Lehrer Salieri und „viele Ausländer“. Er dirigiert für seine große Liebe Therese Grob, die in der Aufführung das Sopransolo sang: hier im perfekten Falsett von Bernhard Röser. Und Schubert wehrt sich gegen Forderungen der Musik-„Produktion“: „Ich habe keine Lust, Euch hier den Affen zu geben!“
Der Schauspieler Schäfer singt die Lieder mit der Legitimation durch den Komponisten. Der hatte einmal geäußert, seine Lieder sollen nicht schön, eher von einem Schauspieler gesungen werden. Das künstlerische Kapital, das die beiden an diesem Abend daraus schlagen, ist nichts weniger als erschütternd. Am Schluss gibt es als Metapher für das verzweifelte und folgenlose Aufbäumen eine große Klavierimprovisation. In jeder Hinsicht dicht und mitreißend kurzweilig wirken die Szenen, in denen die Lieder und die Klaviersonate D 537 als biographisches Resultat erscheinen. Ein großer Abend jenseits institutioneller Strukturen, die ohne eine solche „Szene“ nicht leben könnten.
Ute Schalz-Laurenze
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