: Die Liebe zur Wache
In der Langen Nacht der Museen werden die Berliner Ausstellungshäuser zum Streichelzoo. Gerhard Brennecke, Wachmann im Ägyptischen Museum, schiebt Betrunkene raus, weckt Eingeschlafene und bleibt trotz Party- und Bierzeltstimmung stets gelassen. Mit auf Wache war ■ Kirsten Küppers
Es verhält sich so wie mit allen Frauen. „Hübsch isse schon, aber den Charakter kenn ich ja nicht. Und der Charakter ist alles“, meint Gerhard Brennecke abgeklärt, als gelte es eine aufdringliche Heiratskandidatin abzuwehren. So viel zum Verhältnis des Wachpersonals zum zu schützenden Objekt.
Der 64-jährige Angestellte der Wachdienst-Firma Dussmann muss auf die ägyptische Königin Nofretete aufpassen. Kein leichter Job für den behäbigen Mann mit dem Bürstenhaar. Es ist die „Lange Nacht der Museen“, und von 18 bis 24 Uhr schubsen und quetschen sich ununterbrochen Menschenmassen zwischen Museumsinsel und dem Ägyptischen Museum, Brenneckes Arbeitsplatz.
Die bemalte Modellbüste der Nofretete ist der Star des Hauses. Jeder der circa 4.500 Besucher des Ägytischen Museums zuckelt an diesem Abend wenigstens einmal an ihrer Vitrine vorbei.
Der schnauzbärtige Gerhard Brennecke gibt acht, dass Handybenutzer nicht die elektronische Sicherheitsanlage sabotieren oder fettige Butterbrotfinger auf die Glasscheiben tatschen. Denn Proviant und Telefon hat hier fast jeder dabei. Manche Besucher rücken mit Traveller-Rucksäcken und Getränkedosen an. „Man ist ja Kulturhüter“, begegnet der Wachmann schulterzuckend diesem Almauftrieb aller Altersgruppen, Stile und Schichten. Es herrscht Ausnahmezustand auf der 7. Langen Nacht der Berliner Museen an diesem Wochenende.
50 Museen, verteilt auf 170 Ausstellungshäuser, sind an diesem Abend offen und servieren unter der Regie des Berliner Museumspädagogischen Dienstes eine Art kulturellen Streichelzoo. Ob in der Polizeihistorischen Sammlung echte Polizeibeamte einen Fall nachstellen, ob Angestellte im Hanf Museum Hanfcola ausschenken oder ob Digeridoo-Bläser im Aquarium das Haifischbecken bespielen – überall ist Party.
Im Eingangsbereich des Ägyptischen Museums sind unter der Überschrift „Altägypten – non stop“ an einer Tafel die angebotenen Attraktionen angeschlagen: Musik, Vorträge, Führungen, Rezitationen. Für Wachmann Brennecke bedeutet dies das Immer-wieder sturer Sätzchen: „Ägypten für Kinder ist oben“, „Treppe rauf, Treppe runter gibts den Flötenspieler“, „Würstchen verkaufen sie draußen an der Bude“. Er ist die freundliche Uniform im bahnhofsatmosphärischen Knäuel der Besucher.
Deren Nerven liegen bei dem Gedränge durch übervolle Museumsräume oft mehr als blank: Die Luft ist stickig, der vom Regen nasse Wintermantel zu heiß, vor der nächsten Fahrt im Shuttlebus noch den Nachwuchs auf die Toilette scheuchen – längst sind nicht alle vorgenommenen Stationen geschafft. Um 18 Uhr 45 kommt das erste Kind abhanden. Aufseher Brennecke organisiert seelenruhig eine Durchsage.
Der ehemalige DDR-Maschinenbau-Ingenieur arbeitet seit zwei Jahren auf 630-Mark-Basis bei der Wachschutzfirma Dussmann, um sich etwas Geld zur Rente dazuzuverdienen. „Man will sich ja noch was leisten“, sagt er. Urlaub in Bayern zum Beispiel. Außerdem hat er hier Ablenkung. „Dann muss man zu Hause nicht immer dasselbe Gesicht sehen.“ Über 44 Jahre ist er mit seiner Frau verheiratet. Die Arbeit bei Nofretete langweilt ihn nie. Auch das Stehen macht ihm nichts aus. „Man kann ja immer mal ein paar Schritte hin und her gehen.“ Freilich achtet er inzwischen auf bequeme Schuhe, Schwarz ist Vorschrift, „keine Sambapatschen“.
So sehr sich Brennecke um die Etikette bemüht, so wenig schert sich an diesem Abend der Besucherandrang um die sonst üblichen Gepflogenheiten im Museum. Eine Seniorin schält eine Banane, auf einem Sockel stehen zwei herrenlose Bierflaschen. Eine junge Frau, die auf einer Treppe sitzend Marzipankartoffeln isst, will heute noch ins Haus der Kulturen der Welt, in den Französischen Dom, ins Alte Museum und in den Martin Gropius Bau. Dass bei derlei Marathon der einzelne Ausstellungsaufenthalt schon mal auf eine halbe Stunde zusammenschnurrt, wird von den meisten Besuchern der Langen Museumsnacht bewusst in Kauf genommen.
Laut Umfrage des Instituts für Museumskunde kommen fast 50 Prozent der Ausstellungsnachtschwärmer in Häuser, die sie bisher nicht besichtigt hätten. Viele kämen zu normalen Betriebszeiten ohnehin kaum in städtische Kulturbetriebe, wegen der für Arbeitnehmer unfreundlichen Öffnungszeiten – da ist man schon froh, wenn man überhaupt dabei war. „Heute geht es den meisten nur darum, gesehen zu werden“, beobachtet auch Gerhard Brennecke. „Die wirklich Kunstinteressierten kommen zu anderen Zeiten.“
In der Tat wird jedes bildungsbürgerliche Ausstellungsmodell ad absurdum geführt, wenn die Museumsführerin nur noch heiser flüstert, der Feuchtigkeitsmesser an der Wand gefährlich zittert und hinten jemand gegen eine Schautafel kracht. Andererseits haben auch die Museumsleiter längst begriffen, dass das Einpauken von Wissen über längliche Texttafeln der Auffassung moderner Kommunikationsgesellschaftler – mehr Information in kürzerer Zeit inklusive weniger Spaßbremse – kaum mehr entspricht.
Der aus den USA abgeguckte Typus des Museums als Erlebnispark hat in seiner erfolgreichen Berliner Ausprägung der Langen Nacht die klassische Guckkasten-Schau verabschiedet. Der Umstand, dass die Museen in Zeiten knapper Kassen gezwungen sind, Massenpublikum ins Haus zu holen, hat den Prozess nur beschleunigt. Dabei trägt das zweimal im Jahr zu bestaunende Phänomen beschwippster Buffaloboot-Teenies vor Pharaonenmaske neben Kunsthistorikerin tatsächlich sympathisch demokratische Züge.
Weil alles so ungezwungen chaotisiert, und nicht wegen des Nachtzuschlags zum Gehalt, arbeitet auch Gerhard Brennecke bereits das 5. Mal freiwillig bei der Langen Nacht – trotz Stress und obwohl er heute schon eine ganze Tagesschicht hinter sich hat. Im schmalen Aufenthaltsraum im Keller ist alle zwei Stunden Pause für das Personal. Brennecke packt eine Mineralwasserflasche aus seinem Aktenkoffer, ein Kollege liest eine Autozeitschrift. Das Gespräch dreht sich um den Karnevalsverein und Freizeit in der Datsche. Das meiste Wachpersonal ist 45 Jahre oder älter. Viele kriegen anderswo keine Anstellung mehr. Für junge Leute ist die Arbeit als Daueraufpasser zu stupide. Außerdem gehöre zum Job „die Liebe zur Wache“, umschreibt Brennecke seine eigene Motivation für die monotone Tätigkeit.
Diese Liebe bedeutet Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Exponaten und der Wachschutzfirma Dussman, die ihn an das Ägyptische Museum vermietet. „Hier wird nicht jeder eingestellt“, sagt Brennecke feierlich. „Man braucht eine weiße Weste. Denn man ist ja selbst auch Ausstellungsstück.“ Darum lautet seine Devise auch „höflich wegschieben, nicht pöbeln“, wenn ab 22 Uhr die ersten angetrunkenen Besucher den Bierzeltstimmungsfaktor nach oben treiben. Denn „wer die Ruhe bewahrt, hat schon die halbe Schlacht gewonnen“, pflichtet Brenneckes Kollege bei.
Leise, fast liebevoll weckt denn auch Brennecke kurz vor Mitternacht die auf den Bänken eingenickten Besucher. Wenig später rasselt die Eisenjalousie vor der königlichen Kalksteinbüste herab. Der Schichtleiter übergibt das Haus dem Nachtdienst.
Brennecke fährt in seine Plattenbauwohnung am nördlichen Stadtrand Berlins. Am Dienstag hat er die Nofretete wieder für sich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen