Stadttheatertrostlosigkeit von oben

In Frankfurt an der Oder werden Theater und Gegenwart künftig als Marktsegment im Kongresszentrum verhandelt. Das Kleist Theater, gegründet 1842, verabschiedet sich mit der Uraufführung von Dirk Dobbrows preisgekröntem Stück „Legoland“ ■ Von Esther Slevogt

Freitagabend, der Regionalexpress aus Berlin erreicht Frankfurt (Oder) kurz nach 18 Uhr. Bundesgrenzschutz steigt ein, der nächste Halt liegt schon in Polen. Ich steige aus. Das Reiseziel heißt Kleist Theater. „Kleist Theater?“, fragt der Taxifahrer, „arbeiten Sie denn dort?“ Einen anderen Grund, dort hinzuwollen, kann er sich nicht vorstellen. „Ich will eine Vorstellung sehen“, sage ich, die Uraufführung von „Legoland“, ein Stück des 34-jährigen Berliner Dramatikers Dirk Dobbrow, der damit den diesjährigen Kleist-Förderpreis gewonnen hat.

Schauplatz ist ein Hochhaus am Stadtrand. Oben auf dem Dach treffen sich nachmittags ein paar Jugendliche. Rieke, Jenny, Bibo, Gerd, Paul, Ronnie und Suse. Von hier oben sieht die Stadt wie eine Spielzeugstadt aus, Legoland eben. Unten können sie aber irgendwie nicht leben. „Springen!“, sagt also Jenny und fasst ihre Freundin Rieke an der Hand. „Einfach nach hinten fallen lassen!“ Dann springen sie doch nicht. Noch nicht.

In 26 Szenen gibt Dobbrow kurze Einblicke in das Leben der Jugendlichen. Ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Gnadenlosigkeit untereinander, ihre Hilflosigkeit bei dem Versuch, jemanden zu lieben. Und es gibt drei Erwachsene, die befürchten lassen, dass alles noch viel schlimmer werden wird. Ronnies kranke Mutter, der Penner Mischa und Hilmar, der im Hochhaus den Witwentröster gibt. Dobbrows Sprache klingt an Fleißer und Kroetz geschult, manchmal allerdings zu sehr ins kunstsprachliche gedehnt. Die Szenen sind knapp, manchmal ergreifend trostlos, manchmal aber auch ergreifend platt. „Seit der Wende bin ich nicht mehr im Theater gewesen“, sagt der Taxifahrer. „Oder doch, einmal. Da ist so 'ne Chansonsängerin aufgetreten.“ Sonst geht er jetzt lieber ins Kino.

Wie ihn muss es hier viele geben. Das Kleist Theater wird zum Ende der Spielzeit geschlossen. Dann gibt es kein Theater mehr in Frankfurt (Oder), das seit 1842 ein festes Theater mit eigenem Ensemble hatte. Hier begann vor zehn Jahren die Karriere von Andreas Kriegenburg. Ein anderer Träger des Kleist-Förderpreises, den das Theater zusammen mit der Dramaturgischen Gesellschaft Berlin seit 1996 verleiht, war Marius von Mayenburg, der jetzt an der Berliner Schaubühne arbeitet, wo man Theater gerade noch einmal als Ort der Gegenwart behaupten will. In Frankfurt (Oder) ist dieser Zug abgefahren. „Legoland“ ist die letzte Premiere, die es hier geben wird.

Das Hochhaus auf der Bühne des Kleist Theaters ist dann wie aus Pappe. Die Brüstung schwankt bedrohlich, ab und zu schiebt sich die schwarze Hochhauswand nach oben, und man blickt in beengte Puppenstuben. Da sitzt dann Frau Wolf (Heidemarie Fabian) auf einem Stuhl und lässt sich von Sohn Ronnie (Ralph Hensel) die kranken Beine wickeln. Im Keller trifft Rieke (Judith Raabe) den Obdachlosen Mischa (Uwe Heinrich), der mal Ingenieur gewesen ist und dem Rieke später die Augen ausstechen wird. Frau Wolf kriegt ab und zu Besuch vom aasigen Hilmar (Volker Herold), der es auf ihre Ersparnisse abgesehen hat. Paul (Jan Uplegger) und Gerd (Jan Ole Sroka) auch. Sie stehlen ihr 1.000 Mark, um sich eine Lederjacke zu kaufen, die dann wie ein schwarzer Todesvogel von Figur zu Figur wandert. Am Ende springt Jenny (Patricia Hermes) mit ihr in den Tod.

Michael Funke, der die Bühne baute und das Stück darin inszenierte, versucht einen Realismus hinzukriegen, den Dobbrows Sprache gerade vermeiden will, und bringt damit am Ende bloß das Papier zum Knistern, auf dem das Stück geschrieben ist. Zum Leben erweckt er es nicht. Die Trostlosigkeit ist reine Stadttheatertrostlosigkeit. Bloß Patricia Hermes, die die Jenny spielt, lässt ahnen, was man aus dem Stück hätte machen können. Das ist schade, denn man hätte dem Theater einen starken Abgang gewünscht.

Zur Premiere waren noch mal alle gekommen. Theater-Treffen-Juroren und Berliner-Festspiele-Organisatoren, Theaterkritiker sowieso. So ein Theatertod ist eben ein Ereignis. „Keine Zuschauer, kein Theater“ war die einfache Rechnung der Stadt. Stattdessen will man in Zukunft auf das Kleist-Kultur- und Kongresszentrum setzen. An diesem Freitag wurde in Frankfurt die „Caravan & Touristik Börse 2000“ eröffnet, und der neue Messegeschäftsführer trat sein Amt an. In sein Ressort wird zukünftig das Theater fallen, sozusagen als Marktsegment im Kultur- und Kongresszentrum. Ob Rieke, Jenny, Bibo, Gerd, Paul, Ronnie oder Suse je dort hingehen werden, ist ziemlich fraglich. Wahrscheinlich werden sie sich weiter oben auf dem Hochhaus treffen. Von Zeit zu Zeit wird sich einer von ihnen dort herunterstürzen, und wir werden nicht wirklich wissen, warum. Dann wird wieder ein junger Autor kommen und ein Stück darüber schreiben. Und keiner der Jugendlichen wird kommen, um es sich anzusehen.

„Legoland“ von Dirk Dobbrow. Regie: Michael Funke. Kleist Theater Fankfurt (Oder). Nächste Vorstellungen: 4., 5., 24., 25. Februar 2000