Leitwissenschaften etc.
: Weltformel Biologie

Die skurrile These der Evolutionsbiologen Craig Palmer und Randy Thornhill, Vergewaltigung sei genetisches Programm

Leider haben Craig Palmer und Randy Thornhill nicht Konrad Lorenz gelesen. Sonst wüssten sie, dass der Mensch monogam veranlagt ist; just diesen Befund zog der Nobelpreisträger aus seiner Beobachtung von Graugänsen. Unglücklicherweise haben Palmer und Thornhill die männliche Skorpionfliege beobachtet. Dabei kamen sie zum dem Schluss, dass der Mann, bekanntlich – analog zur Frau – eine Abart des Menschen, ein geborener Vergewaltiger ist. Hier darf man nun sagen: Natürlich kann der arme Mann nichts dafür. Schuld ist allein das evolutionäre Programm, das will, dass er sich auf Teufel komm raus reproduziert.

Drei Monate bevor der Evolutionsbiologe Thornhill und der Evolutionsanthropologe Palmer ihre These als Buch auf den Markt werfen, haben sie diese durch einen Vorabdruck in The Sciences vorsorglich skandalisiert und für ihr Buch „A Natural History of Rape: Biological Bases of Sexual Coercion“ aufnahmebereit gemacht. Es ist nicht neu, das Pathos, das die beiden antreibt: Alle Phänomene des Lebens sind erklärbar, und zwar durch die Wissenschaft vom Leben, die Biologie. Sie ist die Leitwissenschaft der Zivilisation, im Falle von Thornhill und Palmer wohl wieder der Barbarei. Dass die Evolutionstheorie dazu berufen sei, die naturwissenschaftliche Grundlage einer neuen Sittenlehre zu bilden, das sagte schon vor hundert Jahren Ernst „Welträtsel“ Haeckel. Sein Transfermodell findet sich bei den amerikanischen Biophilosophen wieder: Was für die Gene gilt, gilt unbedingt für die Kultur und die Moral.

Es versteht sich von selbst, dass heute kein Mensch den Darwinisten, Arzt, Bestsellerautor des „Welträtsels“ und wohl prominentesten deutschen Gelehrten der letzten Jahrhundertwende mehr kennt. Auch der Verhaltensforscher Konrad Lorenz leidet an schwindendem Bekanntheitsgrad, und Palmer/Thornhill wird es vielleicht bald nicht anders ergehen.

Zunächst haben sie versäumt, das Alter und das Geschlecht der durch die männliche Skorpionfliege geschändeten Artgenossen genauer zu untersuchen. Ein Fehler, denn merkwürdig: Der genetisch gesteuerte Mann, der sich auch durch rohe Gewalt fortzupflanzen sucht, vergewaltigt in 22 Prozent aller in den USA angezeigten Fälle nicht gebärfähige Mädchen unter zwölf Jahren, dazu alte Frauen jenseits ihrer Fruchtbarkeitsphase und last but not least Männer, die nach gegenwärtigem Wissensstand noch nie Kinder ausgetragen haben.

Nach Meinung ihrer pikierten Fachkollegen macht die These von Palmer und Thornhill wissenschaftlich denn auch rein gar nichts her. Gesellschaftlich freilich könnte die Sache zünden. Amerika hat eine der höchsten Vergewaltigungsraten der Welt. Eine US-Studie von 1998 besagt, dass von jährlich knapp 400.000 Vergewaltigungsopfern immerhin ein Drittel Männer sind. Date Rape ist in den Staaten endemisch, und da machte es sich gut, wäre die Natur schuld oder noch besser die Mädchen, die sich wie üblich falsch anziehen. Denn natürlich verzichten Palmer und Thornhill auch auf dieses völlig unterbelichtete Argument nicht.

Amerika und vor allem die amerikanischen Medien aber begeistern sich dafür. Der englische Guardian berichtet, dass die beiden Kadetten das April-Cover des Time Magazine schmücken werden. Falls dies tatsächlich passiert, haben Vergewaltigungsopfer in den Vereinigten Staaten wieder schlechte Karten vor Gericht. Denn hier liegt das wahre Problem des Buches für Amerika. Susan Brownmiller, bekannt durch ihre Untersuchung „Gegen unseren Willen“, befürchtet, dass in Vergewaltigungsfällen die Verteidiger den Schmöker als letzte wissenschaftliche Erkenntnis zitieren werden, falls sie nicht gleich – für gutes Geld versteht sich – Palmer und Thornhill als Experten anheuern.

Für den Rest der Welt liegt das Problem, für das „A Natural History of Rape“ nur Symptom ist, in der Befürchtung, dass sich mit Palmer/Thornhill oder Richard Dawkins und Edward O. Wilson eine aufgeschminkte Evolutionsphilosophie wieder an die Speerspitze der öffentlichen Debatte setzen könnte. Ist die Zeit nach all dem frivolen Spaß bei der Dekonstruktion von Sexualität und anhängenden Daten wie Körper, Geschlecht und Identität schon wieder reif für die platte Weltformel Biologie? „Die Politiker haben die menschliche Biologie bislang nur verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“: So paraphrasierte Richard David Precht kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Anmaßung der Evolutionsbiologen und Genetiker. Das hört sich nicht nach einem liberalen Programm an.

Brigitte Werneburg