: Die Subversion des Körpers
Der Film „Boys don’t cry“ erzählt die authentische Geschichte einer Transsexuellen, die in der amerikanischen Provinz ermordet wurde. Über die Konstruktion des idealen Mannes und die Entstehung einer Ikone ■ Von Jutta Prasse
Falls City, Nebraska: flaches Land, tiefste amerikanische Provinz. Sie sind uns vertraut, diese oft ganz unwahrscheinlich farbigen Bilder der Leere und Öde, der staubigen Straßen und schnurgeraden Highways, der vereinzelten barackenartigen Häuser, der aus dem Nichts aufragenden neonbeleuchteten Supermärkte und schäbigen Vergnügungslokale, der flammenden Sonnenuntergänge. Dort hängen sie mit Bierdosen und Zigaretten herum, die beschäftigungslosen Jugendlichen, veranstalten ihre wilden Verfolgungsjagden im Auto, bis mit heulenden Sirenen und blinkenden Lichtern die Polizei eingreift, feiern ihre nächtlichen Partys im Freien, wo jaulende Motoren und betrunken grölende Lustigkeit die Tristesse und Verlorenheit nur noch spürbarer machen. Die Geschichten, die da erzählt werden, können nur von der Sehnsucht nach einem Anderswo handeln, vom Traum eines Aufbruchs ins Unbestimmte, wo alles anders wäre, wo man endlich leben würde. Oft ist es das klassische Motiv eines auftauchenden Fremden, an dem solche Sehnsüchte nach Veränderung sich festmachen.
Auch die Geschichte, die dieser Film erzählt, handelt vom Anderswo und von einem Fremden, aber auf unvermutete, ja unerhörte Weise. Sie greift einen tatsächlichen Vorfall auf, eine Gewalttat, die in den USA Aufsehen erregt hat. In einem abgelegenen Farmhaus in der Nähe von Falls City begingen Ende 1993 zwei ehemalige junge Sträflinge einen mehrfachen Mord. Unter den Opfern war der einundzwanzigjährige Brandon Teena, der sich erst seit kurzem am Ort aufhielt. Doch in Wirklichkeit – stellte sich heraus – hieß der Ermordete Teena Brandon und war eine Frau. Die Regisseurin Kimberly Peirce hat sich von diesem Fall fesseln lassen, sich jahrelang mit den Gerichtsprotokollen und widersprüchlichen Zeugenaussagen beschäftigt, Interviews mit den Leuten aufgezeichnet, die mit Teena Brandon Umgang hatten.
Das Verdienst ihres Films „Boys don’t cry“ ist, dass er keine Erklärungen liefert, sondern einfach erzählt, zeigt, wie die Ereignisse und Gefühle entstehen und ihren Lauf nehmen. Wir erfahren nichts über Teena Brandons Vorgeschichte, es gibt keine psychologisierenden Rückgriffe auf ihre Kindheit und Familienkonstellation, der Film beginnt mit dem „ersten Mal“, mit dem Augenblick, als Teena sich vor dem Spiegel an dem Jungenhaarschnitt entzückt, den sie sich von einem schwulen Freund hat machen lassen, sich vorne die Hose aufpolstert und als junger Mann eine Rollschuhdiskothek aufsucht, wo sie es auch prompt schafft, mit einer Teenagerschönheit anzubandeln und sie vor ihrer Haustür zu küssen. Wir sehen die kindliche Freude, den Triumph am Gelingen. Alles wirkt noch spielerisch, leicht, und Hilary Swank bewegt sich mit der Grazie eines der Knabenmädchen Shakespeares durch die blinkende Discowelt. Aber schnell ist das komödienhafte Verwirrspiel zu Ende, die jungen Männer des Orts dulden den erfolgreichen Neuling nicht, es kommt zu Verfolgungen und Schlägereien. Brandon macht weiter, sucht entferntere Lokale auf.
Und dann begegnet ihm Lana. Die stellt ihr Glas ab, drückt die Zigarette aus und singt Karaoke, mit unbestimmtem, schwimmendem Blick ins Publikum und zu dem Tisch hin, an dem zwei Freunde von ihr mit Brandon, dem Fremden, sitzen. Und wie Brandon sie dort beobachtet, in der typisch männlichen Position, aber mit unnachahmlich „anders“, nach unten gehaltener Zigarette in der zierlichen Hand, das ist einer der kostbaren Augenblicke, wo ein Film zeigt, wie über den Blick ein Begehren entsteht.
Brandon wird von seinen neuen Freunden in Falls City in eine unklare, akoholvernebelte Gemeinschaft aufgenommen. Die beiden durchaus nicht unsympathischen jungen Männer, verkrachte Existenzen mit langem Strafregister, fühlen sich offenbar durch ihre körperliche Überlegenheit in ihrer Männlichkeit geschmeichelt und tolerieren zunächst fast amüsiert, dass der mädchenhaft hübsche kleine Kerl bei den Frauen so gut ankommt. Und Lana verliebt sich, zum ersten Mal wird ihr gesagt, wie schön sie sei, wie einzigartig. Brandon weiß, wonach ein Mädchen sich sehnt. Er spricht von möglichen Aufbrüchen in eine ferne Glitzerwelt. Als romantischer Liebender wartet er im Dunkeln vor der Fabrik, in der sie zeitweilig arbeitet, bis sie sich in der Pause am Fenster zeigt. Und als er schließlich mit Lana schläft, weiß er ihr – unentschieden, ob es seine allein auf ihr Genießen bedachte Zärtlichkeit ist oder der verstohlene Einsatz seines künstlichen Glieds – höchste Lust zu verschaffen. Dann holt ihn die Realität ein.
Die Produzentin Christine Vachon hat zu diesem Film erklärt: „Brandon steht für die absolute Freiheit, so zu sein, wie man will.“ Aber wir sehen Brandon in diesem Film, wie „er“ beim Aufwachen feststellt, dass er geblutet hat, und dann ungeschickt im Bad den Schritt seiner Jeans auswäscht, wie er den Kulturbeutel einer Freundin auskippt, um nach Tampons zu suchen. Wir sehen „ihn“ vor dem Spiegel, wie er sich mit Bandagen die Brust flach presst, die Männerunterhose mit Tüchern auffüttert, seinen Körper verhüllt, um das Bild von sich herzustellen, das er akzeptieren kann. Während Brandon wegen einer Reihe kleinerer Delikte in Haft ist, untersuchen die neuen Freunde von Falls City die Sachen des Fremden und finden den Kunstpenis und eine Broschüre über Geschlechtsumwandlung. Kann wirklich von Freiheit die Rede sein, wenn man sich mit seinen anatomischen Gegebenheiten nicht abzufinden vermag?
Transsexuelle versichern, lieber sterben zu wollen, als bleiben zu müssen, was sie nicht zu sein glauben. Freiheit würde eine Entscheidung, eine Wahl bedeuten, und genau darum geht es Transsexuellen ja nicht, sie sind der festen Überzeugung, im falschen Körper zu stecken, und sie haben sich den zivilrechtlichen Anspruch auf eine Korrektur dieses „Irrtums der Natur“ erkämpft. Die Bedingung dafür ist, dass es ihnen gelingt, psychologische Gutachter von der „Notwendigkeit“ ihres Vorhabens zu überzeugen, wobei Gefährdung durch Selbstmordabsichten meist die größte Rolle spielt. Aus dieser psychologischen Sicht darf der Wunsch nach Geschlechtsumwandlung kein „bloßer Wunsch“, sondern muss als unverzichtbares Bedürfnis anerkennbar sein, nicht als etwas, was man sich aussucht.
Wäre die wirkliche Teena Brandon statt nach Falls City in eine amerikanische Metropole aufgebrochen, wäre ihr Schicksal vermutlich anders verlaufen, sie wäre dort mit ihrer Problematik nicht allein gewesen, hätte Mitstreiter und Anerkennung ihrer „Identität“ als Transsexuelle finden können. Aber dieser Film handelt nicht von der Minoriät der Transsexuellen und dem politisch korrekten Umgang mit diesem Phänomen, er ist kein Plädoyer für ein psychologisch anzuerkennendes Bedürfnis, er handelt von dem für zwei Stunden ins fiktive Leben gerufenen besonderen Menschen Teena Brandon und ihrer Geschichte in Falls City. Er handelt von Teena Brandons Begehren und den Reaktionen, die es auslöst, und in dieser Beschränkung auf eine singuläre Geschichte hat der Film eine subjektive Qualität, die für dieses Thema außergewöhnlich ist.Auch die Regisseurin verweigert sich nicht der Tatsache, dass die ermordete Teena Brandon in Amerika etwas wie eine Ikone, die Märtyrerin der Transsexuellen, geworden ist, auch sie kreiert um Brandons Figur einen romantischen Mythos der Auflehnung gegen unveränderlich erscheinende Lebensbedingungen, aber genau darin bietet er Möglichkeiten der Beobachtung und Erkenntnis, die weit über einen zivilrechtlichen und psychologischen Bedürfnisdiskurs hinausgehen.
Was will Teena? Sie sucht ein weibliches Ideal zu verwirklichen: den Mann, der für das Genießen einer Frau erschaffen ist. Und sie muss ihn erschaffen, sie ist nicht einfach eine Frau, die Frauen liebt, die beweisen möchte, dass es auch ohne Mann geht, dass es eine Lust der Frau gibt, die jenseits des Penis angesiedelt ist. Teena ist keine Homosexuelle. In ihrer ununterdrückbaren Überzeugung, einen Mann verkörpern zu müssen, in ihrer fast rührenden, manchmal kindlich unschuldig anmutenden Nachahmung äußerer Männlichkeit in Kleidung, Gang, Bewegungen, Stimme beschwört sie ein Ideal des Verhältnisses der Geschlechter, das es in der unvollkommenen Wirklichkeit nicht gibt. Würden weibliches und männliches Begehren einander voll und ganz entsprechen und ergänzen, wären Mann und Frau in ihrer anatomischen und psychischen Geschlechtlichkeit vollkommen und ausschließlich aufeinander bezogen, wären konfliktlose, nie mehr auseinander gehende Paarungen möglich, wie sie der Komödiendichter Aristophanes in Platons „Gastmahl“ augenzwinkernd beschreibt, das heißt Paare aus den beiden Hälften ursprünglich entzweigeschnittener Kugelmenschen, die sich für immer wieder gefunden haben.
Teenas transsexuelles Begehren leugnet die unverwischbare Asymetrie im Unterschied der Geschlechter, die ein nie ganz zu befriedigenes und immer wieder Probleme erzeugendes Begehren generiert. Auch das macht der Film sinnfällig. Er erspart sich trotz aller Romantik um diese sich ganz einem Ideal hingebenden und für dieses Ideal mit dem Leben bezahlenden Figur nicht die Peinlichkeit oder, wenn man will, auch Komik solcher Szenen, wo Teena sich um den Anschein bemüht, einen Penis zu besitzen. Dieser Penis kann – ob Socke in der Hose oder umgeschnalltes Gummiding – nur Prothese sein, aber er ist in seiner Künstlichkeit auch „Kunst“, Realisierung einer Wunschvorstellung jenseits der Wirklichkeit, und somit bleibt er außerhalb der eigentlichen Problematik eines männlichen Glieds, das sich Wunsch und Willen seines Trägers, gerade wenn es begehrt wird, oft kläglich versagt, eben nicht ideal funktioniert.
Teenas Geschichte führt nicht bis zu dem hochproblematischen Punkt „danach“, das heißt wenn nach den operativen und hormonellen Eingriffen das Idealwesen einer Transsexuellen sich mit der Unvollkommenheit einer anatomischen Annäherung an das angestrebte Geschlecht abfinden muss, wenn die Transsexuelle nicht mehr der ideale, der „bessere“ Mann sein wird, sondern ein letztlich doch „unvollständiger“ Mann geworden ist. Teena wird mit dem Schein des Ideals selbst ausgelöscht, als dessen romantisches Opfer.
Der Film endet mit dem Tod in Falls City. In dieser tristen, stumpfen Welt, ist die Sehnsucht nach etwas Anderem, nach ein bisschen Glanz und Romantik so groß, dass der ideale Schein, der den jungen Fremden umgibt, die Menschen bezaubern muss. Die Entdeckung der Täuschung erschüttert für die beiden jungen Männer, in deren Wirklichkeit längst alle Strukturen wie Familie, Schule, Gesetz, Institutionen versagt haben, wohl die einzige symbolische Ordnung, an die sie sich noch halten können: die Zweiteilung der Menschen in Männer und Frauen. Dass sie sich darin haben betrügen lassen, dass ihnen nicht einmal diese Sicherheit mehr gewiss ist, treibt sie zu der blindwütigen Aggression, zur Vernichtung im Namen einer Ordnung. Und darin zeigt der Film auch sie als Opfer unserer unvollkommenen Geschlechtlichkeit.
„Boys don’t cry“. Regie: Kimberly Peirce. Mit Hilary Swank, Chloë Sevigny u. a. USA 1999, 114 Min.
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