: Sterbende Väter und sadistische Frauen
■ Vor dem Spitzenspiel am Sonntag gegen den FC Bayern lassen manche HSV-Fans nichts unversucht, um doch noch einen Sitzplatz im Volksparkstadion zu ergattern
Die Dramaturgie könnte nicht besser ausgearbeitet sein. Nach sieben Wochen des Wartens startet die Fußball-Bundesliga heute Abend mit zwei Begegnungen, die als Appetizer taugen, am morgigen Sonnabend, die Spannung steigt, tritt mit Leverkusen, Stuttgart, Bremen und 1860 München das Gros der UEFA-Cup-Aspiranten auf den Plan, ehe am Sonntagabend um 20 Uhr ein veritables Duell um die Meisterschaft angepfiffen wird: HSV versus Bayern München. Allerdings haben sportliche Erwägungen mit der Terminierung von Bundesligaspielen nicht das Geringste zu tun, es geht einzig und allein um die bestmögliche televisuelle Ausschlachtung des Showgeschäftes Fußball-Bundesliga. Nicht weniger als vier Begegnungen werden direkt übertragen, der Rest wird auf etwa zehn Kanälen zerstückelt, bewertet und bis Mittwoch immer wieder recycelt.
Angesichts einer solchen medialen Überfütterung nimmt es Wunder, dass die Zahl der Leute, die ein Spiel live im Stadion sehen wollen, in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen ist. Am Sonntag werden 53.800 Zuschauer im Volksparkstadion für eine Brutto-Einnahme von drei Millionen sorgen. Bereits Stunden nach Beginn des Karten-Vorverkaufs im November war die Arena restlos ausverkauft. Und seither machen auf der HSV-Geschäftsstelle Anekdoten die Runde, mit welchen Tricks einige Fans doch noch an ein Ticket kommen wollen. Abstruse Schuldzuweisungen an die Post („Ist mein Verrechnungsscheck über 1200 Mark nicht angekommen?“) sind wenigstens pietätvoll. Jedoch sollen auch auf dem Sterbebett liegende Väter und andere Verwandte in jüngster Zeit vermehrt den Wunsch geäußert haben, noch ein letztes Mal im Leben ein HSV-Spiel zu sehen. „Vor ein paar Tagen stand hier jemand mit einem blauen Fetzen in der Hand und hat behauptet, seine Frau habe bei einem Ehestreit sein Allerliebstes zerstört. Natürlich war es die Karte zum Bayern-Spiel“, berichtet ein Geschäftsstellen-Mitarbeiter und freut sich, dass „das Theater am Montag vorbei ist“.
Das dürfte auch für die HSV-Spieler gelten, die seit Wochen nur noch Fragen über „das Gipfel-Treffen“ (Mopo) beantworten müssen. Dabei sind sie in der unangenehmen Lage, Erwartungen dämpfen zu müssen, die von Vereinsseite selbst geweckt wurden. Unvergessen die Saisoneröffnungsfeier auf dem Rathausmarkt, als Präsident Werner Hackmann postulierte, er wolle „hier bald wieder eine Meisterschaft feiern“.
In der Tat erscheinen Gedankenspiele um die Deutsche Meisterschaft in diesem Jahr etwas weniger vermessen als in der Vergangenheit. Bei einem Sieg gegen die Bajuwaren würde der Rückstand auf zwei Zähler zusammenschmelzen. Eine Niederlage hingegen hätte zur Folge, dass der süddeutsche Abonnements-Meister mit acht Punkten enteilen würde. Und da auch Letzteres durchaus im Bereich menschlicher Vorstellungskraft liegt, betont HSV-Trainer Frank Pagelsdorf seit Tagen, wie unaussprechlich sensationell ein Sieg seiner eigenen Mannen wäre: „Die Bayern werden wieder Meister. Sie sind uns an Erfahrung und Cleverness voraus.“
Zumindest was die Ausstattung im Stadion anbetrifft, könnte Pagelsdorf da Recht haben: So fehlt den 53.800 auch am Sonntag ein Dach über dem Kopf, und auch für die Notdurft ist nur notdürftig gesorgt: Viele Toilettenhäuschen sind außer Betrieb. Im Licht dieser Tatsache erscheint plötzlich auch das Wrocklagesche Vollbierverbot, das am Sonntag erstmals in Kraft tritt, ganz vernünftig. Christoph Ruf
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